Der Eine-Million-Dollar-Zug J. G. Kastner Amerika #08 Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien. In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss. Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat... Die zweite Salve, von den hinter Barrikaden versteckten Verteidigern abgefeuert, brachte den Angriff der fast einhundert Reiter zum Erliegen. Verwundete Männer schrien auf, stürzten aus den Sätteln und wälzten sich auf dem schlammigen Boden hin und her. Die reiterlosen, von dem Schußgewitter aufgeschreckten Pferde stoben nach allen Seiten davon und brachten weitere Unordnung in die Reihen der Guerillas. Wer noch im Sattel saß, zügelte sein Pferd und blickte hinüber zu den beiden Anführern, neben denen ein Mann mit einer großen schwarzen Flagge ritt. Der zierliche, unauffällige Mann in der Uniform eines Südstaatenoffiziers, der die »Schwarze Brigade«, wie er seine kleine Armee nannte, befehligte, hob den rechten Arm und schwenkte die Hand mehrmals nach hinten. Erleichtert wendeten seine Männer ihre Pferde, gaben ihnen die Sporen und sprengten zurück hinter die rettenden Hügel. Ihre Gegner hinter den Barrikaden schickten ihnen einen Kugelhagel nach, der noch den einen oder anderen Freischärler zu Fall brachte. Wer von den aus dem Sattel Geschossenen noch laufen konnte, rappelte sich auf, versuchte ein reiterloses Pferd einzufangen oder hinkte den zurückweichenden Kameraden nach. Manch einer schaffte es, sich in Sicherheit zu bringen. Manch einer brach aber auch unter dem heißen Blei, das auf der Flucht in seinen Körper fuhr, zusammen. Die Verteidiger des kleinen Ortes Blue Springs in der Nähe des Missouri kannten keine Gnade. Genauso wenig wie die Angreifer, die berüchtigte Guerillaschar des ehemaligen Schulmeisters und jetzigen Captains William Clarke Quantrill. Man schrieb den Juni des Jahres 1863, und in Nordamerika tobte der erbitterte Bürgerkrieg zwischen der Union der Nordstaaten und den konföderierten Südstaaten. Ein Krieg, der hier, im Grenzgebiet zwischen Kansas und Missouri, mit besonderer Härte und Grausamkeit geführt wurde. Kansas hatte der Sklaverei abgeschworen. In Missouri war sie, obwohl sich der Staat auf die Seite der Union geschlagen hatte, erlaubt. Schon vor Ausbruch des Sezessionskrieges, wie der Bürgerkrieg auch genannt wurde, hatten sich hier im Grenzgebiet Anhänger und Gegner der Sklaverei blutige Kämpfe geliefert. Diese flammten jetzt mit erneuter Heftigkeit auf, weil jede der kriegführenden Parteien hoffte, die Grenzstaaten auf seine Seite zu ziehen. Vielfach wurde der Kampf von irregulären Truppen ausgetragen, und die waren in der Regel noch unerbittlicher als die Regulären. Quantrills wilde Reiter hatten sich unter den Irregulären den Ruf eines besonders draufgängerischen, brutalen Haufens erworben. Wo sie auftauchten, regierten Vernichtung, Tod, Furcht und Schrecken. Schon mehrere Ortschaften der Sklavereigegner hatten sie in Schutt und Asche gelegt. Derzeit allerdings sah es so aus, als sollte ihnen das mit Blue Springs nicht gelingen. Jedenfalls nicht so mühelos, wie es sich viele der Angreifer vorstellten, als sie ihre Pferde unter lautem Gejohle in den Kampf getrieben hatten. Hinter der ersten Hügelkuppe zügelte Quantrill seinen Braunen und sah mit besorgter Miene seine zurückweichenden Männer an, die sich um ihn und die schwarze Flagge herum sammelten. Viele von ihnen hatten Verletzungen davongetragen, ein paar sogar mehrere. Die Verteidiger hatten unter seinen Männern eine blutige Ernte gehalten. »Dieser Cordwainer ist ein schlauer Fuchs«, sagte Quantrill zu seinem Unterführer Bloody Bill Anderson, der sein Pferd zu ihm lenkte. »Er hat uns nahe genug herankommen lassen, um uns mit den Salven seiner Leute erhebliche Verluste beizufügen.« »Trotzdem hätten wir den Angriff nicht abbrechen sollen«, knurrte ein unzufriedener, wütender Anderson und fuhr dabei mit der Hand durch seinen dichten dunklen Vollbart, als hätten sich dort ein paar ihrer Gegner eingenistet. »Wir hätten versuchen sollen, die Barrikaden zu stürmen. Im Nahkampf hätten wir schnell mit diesen Yankee-Hunden aufgeräumt.« Quantrill schüttelte seinen schmalen Kopf mit dem dunkelblonden Haar, das unter einem grauen Offiziershut hervorlugte. »Das glaube ich nicht, Bill. Dieser Cordwainer scheint mit allen Wasser gewaschen zu sein. Er verläßt sich bestimmt nicht nur auf eine Verteidigungslinie. Ich an seiner Stelle würde es jedenfalls nicht tun.« Zwei weitere Reiter drängten ihre Pferde zu Quantrill und Anderson, ein blonder Weißer und ein kräftiger Schwarzer. Es waren Custis Hunter und sein ehemaliger Sklave Melvin, der einzige Neger unter Quantrills Männern. Vor einem halben Jahr noch war Custis Hunter ein glücklicher Mann gewesen und hatte auf Starcrest, der Plantage seines Vaters, gelebt. Zusammen mit der Frau, die er in Kürze zu heiraten gedachte, Virginia Lawrence aus Blue Springs. Aber dann überfiel Byron Cordwainer mit seiner aus den Bürgern von Blue Springs aufgestellten Jayhawkers-Freiwilligentruppe die Plantage und brannte sie nieder. Custis' Vater starb dabei ebenso wie Melvins schwangere Frau. Melvin rettete Custis aus den Flammen des brennenden Herrenhauses, in dem ihn die Jayhawkers liegengelassen hatten, weil sie den von mehreren Kugeln getroffenen Mann für tot hielten. Aber Custis kam durch und erholte sich ganz langsam von seinen schweren Verletzungen. Er und Melvin, dem er die Freiheit geschenkt hatte, hatten sich Quantrills Guerillas angeschlossen, um Rache zu nehmen an Byron Cordwainer, den Bürgern von Blue Springs und der Frau, die jetzt Virginia Cordwainer hieß. Die junge Frau, Tochter des Bankiers Armstrong Lawrence, war aus ihrem Elternhaus geflohen, um der Hochzeit mit dem ungeliebten Byron Cordwainer, Sohn des Bürgermeisters und neben Armstrong Lawrence mächtigsten Mannes von Blue Springs, zu entgehen. Virginia liebte Custis und zog zu ihm. Byron Cordwainer hatte sie sich bei dem Überfall zurückgeholt. Custis konnte es erst nicht glauben, als er hörte, daß Virginia den ungeliebten Mann geheiratet hatte. Doch es war so. Seitdem galt der Haß in seinem Herzen auch der einstmals geliebten Frau, deretwegen er alles verloren hatte, die Plantage - und seinen Vater. »Wir müssen wieder angreifen«, rief Custis, sobald er Quantrill und Andersen erreicht hatte. »Blue Springs darf nicht zur Ruhe kommen!« »Sie werden nicht zur Ruhe kommen«, entgegnete der Guerillaführer. »Aber mit unserem nächsten Angriff lassen wir uns Zeit. Er muß gut vorbereitet sein. Ich will nicht, daß wir uns noch einmal blutige Nasen holen.« Custis war einigermaßen beruhigt. Als Quantrill vorhin das Zeichen zum Rückzug gegeben hatte, befürchtete er, der Anführer der Schwarzen Brigade könnte genug haben vom Angriff auf Blue Springs. Aber es gab etwas für Quantrill sehr Wichtiges in der Stadt, weswegen er sie unbedingt einnehmen wollte. Custis wußte nicht, um was es sich handelte. Nur Quantrill, Anderson und George Todd, der den Angriff auf der Westseite der Stadt befehligte, schienen das zu wissen. Custis konnte es gleichgültig sein. Hauptsache, er würde die Stadt brennen sehen! George Todd sprengte zu ihnen heran und sagte zu Quantrill: »Das war ein verdammter Fehlschlag, Bill. Ein halbes Dutzend meiner Männer ist tot, genauso viele schwer verwundet.« »Bei uns sieht es ähnlich aus«, erwiderte der Guerillaführer, dessen ausdrucksloses Gesicht mit den unpassend weichen, fast weiblichen Zügen unbewegt blieb. »Aber beim nächsten Mal zeigen wir es der Yankee-Brut!« »Das klingt, als hättest du einen Plan«, meinte Todd interessiert. »Den habe ich«, sagte Quantrill und teilte seinen Männern mit, wie er die Stadt erobern wollte. * Martin Bauer verließ die Kirche von Blue Springs mit einem weißen, stramm sitzenden Verband um seine rechte Schulter, in die eine Kugel der Bushwackers gefahren war, wie die Südstaaten-Guerillas auch genannt wurden. Father Goddard hatte sein Gotteshaus in ein Krankenhaus umgewandelt, um die Verwundeten zu versorgen. Mit mehr Gottvertrauen als Geschick gingen er und die Frauen, die ihm halfen, ihrer Aufgabe nach. Der einzige Arzt der Stadt, der alte Dr. Hatfield, hatte am gestrigen Tag den Ort verlassen, um auf der Miller-Farm einen Krankenbesuch zu machen. Einer Nachricht zufolge, die Quantrill ihnen mit dem toten Gus Peterson geschickt hatte, befand sich Hatfield jetzt in den Händen der Südstaatler. Martin blieb vor der Kirche stehen und lauschte der Stille, die über der Stadt lag und die ihm nach dem Feuergefecht unwirklich vorkam, beinah überirdisch. Aber sie paßte zu dem Ort. Blue Springs war eine aufstrebende Stadt, der selbst die unermüdlichen Regengüsse der letzten Tage nicht den Anschein von Ordentlichkeit und Sauberkeit hatten nehmen können. Kürzlich erst war die Eisenbahnstrecke nach Kansas City fertiggestellt worden, und jetzt warteten die Bürger auf den Beginn des regulären Bahnverkehrs und die Reisenden, die in ihrer Stadt absteigen und ihr Geld dort lassen würden. Martin und seine Freunde Jacob Adler und Irene Sommer hatte es eher zufällig hierher verschlagen. Mit einem Dampfschiff waren sie von St. Louis aus den Missouri hinaufgefahren, um sich in Kansas City einem Oregon-Treck anzuschließen. Aber das tagelange, pausenlose Unwetter hatte eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Deshalb hatte der Kapitän alle Reisenden an Land setzen lassen, wo sie ein Wagenzug nach Blue Springs bringen sollte, um von dort aus mit der Eisenbahn nach Kansas City zu fahren. Der Wagenzug war von Quantrills Bande angegriffen worden, die es auf Blue Springs abgesehen hatte und verhindern wollte, daß die Bürger der Stadt Verstärkung erhielten. Die Reisenden waren zwar durchgekommen, aber Martin fragte sich, ob das an ihrem Schicksal etwas änderte. Sie waren zusammen mit den Bürgern der Stadt in Blue Springs eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Rettung. Er dachte an den jungen Peterson, den besten Reiter der Stadt, der in der Nacht ausgesandt worden war, um Hilfe aus der Garnison von Kansas City zu holen. Quantrill hatte ihn erwischt und mit einem Ultimatum, das die Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation enthielt, in die Stadt zurückgeschickt. Die Aufforderung steckte an einem Messer, das in Petersons Brust gerammt worden war. Den toten Kurier hatten die Bushwackers auf seinem Pferd festgebunden. Jetzt lag Peterson in einem Nebenraum der Kirche aufgebahrt, und Mary Calder, seine junge Verlobte, trauerte um ihn. Und in Kansas City wußte man nichts über die verzweifelte Lage, in der sich Blue Springs befand. Auch telegrafisch hatte man keine Hilfe anfordern können. Alle Verbindungen waren unterbrochen. Wahrscheinlich war das ebenfalls Quantrills Werk. Mit langsamen Schritten, die frische, ein wenig nach Pulverrauch und Tod schmeckende Luft dieses ersten regenlosen Morgens seit vielen Tagen aufsaugend, ging der stämmige Deutsche durch die leeren Straßen der wie ausgestorben wirkenden Stadt. Sein Ziel lag im vornehmen Südteil: das Haus der Cordwainers, wo er und seine Freunde Unterkunft gefunden hatten. Hier wollte er sich ein wenig ausruhen. Sein verletzter Arm schmerzte so heftig, daß Martin für eine Weile als Schütze nicht zu gebrauchen war. Wenn er länger auf die Fenster der verriegelten und teilweise verbarrikadierten Häuser sah, bemerkte er zuweilen ein Augenpaar oder zumindest das Flattern der Vorhänge. Alte, Frauen und Kinder warteten ängstlich auf den Ausgang des Kampfes, der über das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner entscheiden würde. Wie Quantrills Männer mit eroberten Städten umgingen, war allgemein bekannt. Häuser wurden abgebrannt, Männer erschossen und Frauen vergewaltigt. Nicht in alle Fenster konnte er blicken. Viele, besonders die zu ebener Erde gelegenen, waren mit Brettern vernagelt. Es war ein langer, beschwerlicher Weg, der den norddeutschen Bauernsohn nach Amerika geführt hatte. Martin fragte sich, ob er hier zu Ende war. Die Wohnhäuser wurden größer, pompöser und waren von kleinen Parks umgeben, als er ins südliche Viertel kam. Hier lebten die wohlhabenden Familien, wie die Cordwainers und die Lawrences. Sie bestimmten, was in Blue Springs geschah. Sie sorgten dafür, daß alle Bürger der Stadt auf der Linie der Sklavereigegner waren. Und doch waren fast alle Bediensteten, die Martin bislang hier gesehen hatte, Schwarze. Dieses Land Amerika war ebenso seltsam wie groß. Seine Bewohner fochten einen gnadenlosen Bruderkrieg untereinander aus, in dem es nicht zuletzt um die Frage der Sklavenbefreiung ging. Und doch duldeten die Nordstaaten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, in ihren Reihen Staaten, in denen Sklaverei erlaubt war. Der Staat Missouri, an dessen westlichem Rand Blue Springs lag, war solch ein Staat. In einer Zeitung auf dem Flußdampfer PRIDE OF MISSOURI hatte Martin die Proklamation gelesen, mit der Abraham Lincoln, Präsident der Nordstaaten, die Sklaven in den Konföderierten Staaten für frei erklärt hatte. Darin hatte es geheißen: »Daß am ersten Tag des Januar unseres Herrn 1863 alle Personen, die in einem Staat oder bestimmten Teil eines Staates, dessen Bewohner zu der Zeit in Aufruhr gegen die Vereinigten Staaten sind, von der Zeit und für immer frei sein sollen, und die vollziehende Staatsgewalt der Vereinigten Staaten mit Einschluß der Militär- und Marinegewalt die Freiheit solcher Personen anerkennen und erhalten wird und nichts tun wird, um solche Personen oder eine von ihnen in ihren Bemühungen für ihre tatsächliche Freiheit zu hindern.« Die Schwarzen in den sklavenhaltenden Staaten des Nordens waren nicht davon betroffen. Sie blieben weiterhin Sklaven. Mitreisende auf dem Schiff hatten das Martin gegenüber als einen politischen Schachzug Lincolns bezeichnet. Der Präsident durfte Staaten wie Missouri nicht verprellen, wollte er verhindern, daß sie Partei für die Konföderation ergriffen. Später, wenn der Krieg gewonnen und die Sklaven in den Südstaaten freie Menschen waren, würden die übrigen Sklavenstaaten mitziehen müssen, denn das System der Sklaverei würde sich dann überlebt haben. Vielleicht stimmte das. Martin jedenfalls hatte Vertrauen zu Abraham Lincoln. Er hatte diesen großen Mann, auf dessen breiten Schultern eine ungeheure Verantwortung lastete, persönlich kennengelernt, als er und Jacob dabei geholfen hatten, die Entführung des Präsidenten durch Quantrills Guerillas zu verhindern. Lincolns zerfurchtes, gütiges, weises und stets zu einem humorvollen Lächeln fähiges Gesicht stand so deutlich vor seinem inneren Auge, als sei dieses Zusammentreffen erst gestern erfolgt. Er spürte, daß dieser Mann nur das Beste für sein Land und dessen Bewohner wollte, auch wenn Martin nicht alle Winkelzüge der großen Politik verstand. Er wünschte Lincoln Glück und Erfolg für seinen schweren Kampf. Das große weiße Herrenhaus der Cordwainers lag ebenso verlassen vor ihm wie alle übrigen Gebäude der verängstigten Stadt. Auch hier waren die zu ebener Erde liegenden Fenster vernagelt. Martin schritt über den breiten Kiesweg und stellte ohne Erstaunen fest, daß die Tür verschlossen war. Er zog heftig an der Klingelschnur. Als er über sich ein Geräusch hörte, blickte er hoch. Ein nicht vernageltes Fenster im ersten Stock war geöffnet worden. Clyde, der grauhaarige schwarze Butler schaute heraus. »Einen Moment, Mr. Bauer!« rief er, als er Martin erkannte. »Ich öffne Ihnen gleich!« Clyde verschloß das Fenster wieder sorgfältig und kam die Treppe herunter. Martin hörte, wie er einen schweren Riegel zurückzog, bevor er die Haustür öffnete. Der Butler stand nicht allein in der Türöffnung. Hinter ihm starrten Avery und Abigail Cordwainer den Deutschen fragend an. Der Bürgermeister von Blue Springs hielt, ebenso wie sein Butler, einen Karabiner in der Hand. »Was ist geschehen?« wollte der alte Cordwainer wissen. »Haben wir Quantrill geschlagen?« »Zurückgeschlagen ist wohl der passendere Ausdruck«, meinte Martin, als er eintrat. »Seine Männer haben sich an unseren Barrikaden blutige Köpfe geholt. Aber ich bin ziemlich sicher, daß es noch nicht vorbei ist.« »Wieso nicht?« fragte die Frau des Bürgermeisters. »Was können diese Banditen nur von uns wollen?« »Ich bin nicht aus dieser Stadt«, antwortete der Deutsche achselzuckend. »Ich weiß es nicht.« »Ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht und weiß es auch nicht«, brummte Cordwainer, während Clyde die Tür wieder verriegelte. »Ich werde mich etwas ausruhen«, sagte Martin und ging nach oben. Unten blieben die Menschen zurück, die sich mit keinem Wort nach seiner Verwundung erkundigt hatten. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Auf dem Gang im ersten Stock steuerte Martin das Zimmer an, in dem er und Jacob einquartiert waren, als er plötzlich einen spitzen Schrei hörte, gefolgt von einem langgezogenen, gequälten Stöhnen. Es war die Stimme einer Frau. Sofort dachte er an Irene, die er und Jacob auf dem Auswandererschiff unter ihre Fittiche genommen hatten. Sie war mit ihrem kleinen Sohn Jamie im Haus der Cordwainers zurückgeblieben, als ihre beiden Freunde an diesem Morgen gegangen waren, um die Stadt gegen Quantrill zu verteidigen. Als er vor der Tür ihres Quartiers stand, hörte er ein leises Wimmern, das aber nicht aus ihrem Zimmer kam, sondern aus dem Nebenraum. Er klopfte dort gegen die Tür, vorsichtig erst, dann heftiger. »Herein«, rief schließlich eine Frauenstimme, ohne daß das Wimmern aufhörte. Als er eintrat, wäre er beinahe sofort wieder gegangen. Auf die Szene, die sich seinen Augen bot, war er nicht vorbereitet. Irene und das schwarze Dienstmädchen Beth beugten sich über das riesige, von einem Baldachin überspannte Bett, in dessen zerwühlten Kissen Virginia Cordwainer lag und sich in schmerzhaften Krämpfen wand. Das schweißnasse Nachthemd der schwangeren Virginia war so weit hochgeschoben, daß ihre Brüste zur Hälfte hervorlugten. Ihre Hände hatten sich ins Bettlaken gekrampft, als wollte sie es zerreißen. Ihr Gesicht, von dem der Schweiß in kleinen Bächen herunterlief, war schmerzverzerrt. Aus ihrem halbgeöffneten Mund drang das fortwährende Wimmern und Stöhnen. »Pressen«, stieß Irene hervor, während sie Virginias Gesicht mit einem feuchten Tuch abtupfte. »Sie müssen stärker pressen, Virginia!« »Das... tu ich... doch...«, brachte die Frau im Bett unter Schmerzen hervor. »Ich tu. alles. was ich kann. Es. es geht. einfach nicht!« »Es muß gehen!« beharrte Irene. »Ihr Kleines will unbedingt auf diese Welt, und Sie müssen ihm dabei helfen.« Martin erbleichte und sagte stotternd: »Ich habe nicht gewußt, daß es schon soweit ist.« »Niemand hat es gewußt«, antwortete Irene. Da bemerkte sie seinen Verband, und ihr Gesicht wurde noch ernster. »Martin, was ist passiert?« »Nur ein Streifschuß. Ich bin kein großer Verlust für die Stadtverteidigung. Ich habe keinen von den Quantrill-Männern getroffen. Aber wir haben sie doch zurückgeschlagen.« »Dann ist unsere Stadt gerettet?« fragte die Schwarze hoffnungsvoll. »Nein. Quantrill belagert uns weiterhin. Ich bin ziemlich sicher, daß er wieder angreift.« »Was ist mit Jacob?« erkundigte sich Irene, und ihre Stimme zitterte vor Angst. Sie empfand mehr für Jacob als bloße Freundschaft, auch wenn sie das niemandem sagte, weil Carl Dilger, der Vater ihres Kindes, in Oregon auf sie wartete. »Ist ihm. etwas zugestoßen?« »Nein«, antwortete Martin kopfschüttelnd. »Er hat zwei von Quantrills Halunken erwischt, aber die ihn nicht.« Virginia versuchte sich ein wenig aufzurichten, schaffte es aber nicht und sank ermattet wieder in die Kissen zurück. Leise, immer wieder von gequältem Stöhnen unterbrochen, fragte sie: »Stimmt das. mit. Doc Hatfield? Ist er. Quantrills Gefangener?« »Es sieht so aus. Jedenfalls lautete so die Nachricht, die wir bei Peterson fanden.« »O Gott«, murmelte sie und schloß die Augen. »Wer soll mir dann noch helfen?« »Wir«, sagte Irene laut. »Und Gott.« Aber ihr Gesicht verriet Martin, daß sie nicht so überzeugt davon war, wie sie sich der Schwangeren gegenüber gab. Irene wandte sich wieder an Martin und zeigte auf das Kinderbett mit dem kleinen Jamie, der verängstigt dreinschaute. »Ich habe Jamie herübergeholt, damit er nicht allein ist. Aber es ist wohl nicht das Richtige für ihn. Könntest du auf ihn achtgeben?« »Sicher doch.« Irene und er trugen das Bettchen mit dem kleinen Kind in sein Zimmer. »Es läuft nicht gut, oder?« fragte Martin, als sie dort angekommen waren. »Ich meine die Geburt.« »Nein«, antwortete die junge Deutsche und atmete tief aus. »Es sieht sogar ziemlich schlimm aus. Beth und ich haben das Gefühl, daß das Kind quer im Bauch liegt. Ein Arzt müßte her, um es herauszuoperieren.« »Weiß Virginia das?« »Nein. Je länger sie nichts davon weiß, desto besser.« »Gibt es sonst niemanden in Blue Springs, der sich mit solchen Sachen auskennt.« »Leider nicht. Die Hebamme ist letzten Monat gestorben.« »Warum hilft euch Mrs. Cordwainer nicht? Ich meine die alte Dame, Virginias Schwiegermutter. Sie hat immerhin schon zwei Kinder auf die Welt gebracht.« »Sie scheint nicht daran interessiert zu sein.« »Nicht interessiert?« wiederholt Martin ungläubig. »An der Geburt ihres eigenen Enkels?« »Es ist nicht ihr Enkelkind«, sagte Irene langsam, nach den richtigen Worten suchend. »Jedenfalls nicht eigentlich.« »Das verstehe, wer kann. Ich nicht.« »Byron Cordwainer ist nicht der Vater. Verstehst du das?« »Ja. Aber wieso? Ich. ich meine.« »Wieso Virginia das Kind eines anderen Mannes im Bauch trägt? Weil sie diesen Mann liebte und ihn heiraten wollte, bis Byron Cordwainer ihn ermorden ließ.« »Was?« fragte ein fassungsloser Martin und starrte Irene noch ungläubiger an als zuvor. In knappen Worten berichtete Irene ihm, was sie von Virginia erfahren hatte. Sie war noch nicht ganz fertig, als eine ganze Reihe spitzer Schreie aus dem Zimmer der Schwangeren erscholl. »Ich muß wieder rüber«, sagt Irene. »Paß gut auf Jamie auf.« Als sie Martin mit dem Kind alleingelassen hatte, sah der Auswanderer andächtig auf den jungen, im Vergleich zu dem stämmigen Mann winzig wirkenden Erdenbürger und murmelte: »Ein Kind, dessen Vater tot ist. Und ein Kind, dessen Vater irgendwo in diesem großen Land verschollen ist. Was hatte ich doch für ein Glück, daß mein Vater ein einfacher Heidebauer war.« * Der junge Reiter schonte seine Pferde nicht. Mit lauten Rufen und Tritten in die Flanken trieb er den Schimmel, auf dem er saß, voran. Der Braune, dessen Zügel an den Sattel des Schimmels gebunden waren, mußte mithalten. Er war das Ersatzpferd, auf das der Reiter überwechseln würde, sobald der Schimmel erschöpft war. Vom Reiten, von Pferden und vom schnellen Pferdewechsel verstand Will Cody eine ganze Menge. Vieles davon hatte er gelernt, als er für den Pony Express geritten war. Keiner der vielen Kurierritte damals war so wichtig gewesen wie der Ritt, auf dem er sich jetzt befand. Als Expreßreiter hatte er auch Nachrichten übermitteln müssen, in vielen Fällen sicher auch wichtige Nachrichten. Aber jetzt ging es um Leben und Tod. Um das Leben und um den Tod der Bürger von Blue Springs. Ob sie überlebten oder starben, lag in seinen Händen, hing davon ab, ob er durchkam und General Ewing in Kansas City rechtzeitig über Quantrills Umtriebe in Kenntnis setzte. Der siebzehnjährige Bursche mußte plötzlich an seine Mutter denken und bekam ein schlechtes Gewissen. Obwohl es ihn drängte, auf Seiten der Union gegen die verhaßten Sklavenhalter zu kämpfen, hatte Mary Ann Cody ihrem Sohn das Versprechen abgetrotzt, sich nicht zur Armee zu melden, bis er achtzehn war. Will konnte das verstehen. Seine Mutter hatte Angst, den einzigen Mann zu verlieren, der ihrer Familie geblieben war. Erst war Wills älterer Bruder Sam gestorben, mit zwölf Jahren bei einem Reitunfall. Dann vor sechs Jahren Wills Vater Isaac, an den Folgen einer schweren Erkältung. Die eigentliche Todesursache aber war Isaac Codys angegriffene Gesundheit, die von einem Messerstich herrührte, den ein Verfechter der Sklaverei dem erklärten Sklavereigegner hinterrücks versetzt hatte. Isaac Cody war nur sechsundvierzig Jahre alt geworden. Grund genug für den jungen Will, die Verfechter der Sklaverei zu hassen. Seine Mutter kannte seinen Haß und wollte ihren Sohn davor bewahren, ihm selbst zum Opfer zu fallen. Deshalb das Versprechen, das Will ihr geben mußte. Und jetzt war er in ein Abenteuer verwickelt, das viel gefährlicher war als der Dienst in einer regulären Einheit der Armee. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Er hatte für die Armee als Kurier und Pferdefänger gearbeitet, um wenigstens etwas für die Sache des Nordens zu tun, wenn es ihm schon verwehrt war, die blaue Uniform anzuziehen. Auf der Suche nach ein paar Pferden, die ihm gestohlen worden waren, hatte er seinen alten Freund und Lehrmeister James Hickok wiedergetroffen. Die gestohlenen Pferde waren Quantrills Guerilla-Bande zugeführt worden, in die sich Hickok gerade einschlich. Cody packte die Abenteuerlust, und er schloß sich seinem älteren, von ihm bewunderten Freund an. Nun war er hier, ritt um das Leben einer ganzen Stadt und fragte sich, was seine Mutter dazu sagen würde. Es war besser, er erzählte es ihr gar nicht erst. Er durchritt hügeliges, bewaldetes, unüberschaubares Land und geriet unverhofft an einen kleinen Creek. Die Pferde wieherten erfreut, als sie die Witterung des Wassers aufnahmen, und auch Cody verspürte Durst. Am Ufer des Baches stieg er aus dem Sattel und ließ die Pferde trinken, darauf achtend, daß sie nicht zuviel Wasser in sich hineinschlürften. Dann kniete er sich hin, nahm den speckigen Hut mit der verbogenen Krempe ab und gönnte sich selbst eine Erfrischung. Als er sich wieder erhob und seinen Hut aufsetzte, wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Für kurze Zeit war er unaufmerksam gewesen, hatte einfach nur das belebende Gefühl des Wassers genossen, das seine Kehle hinunterrann. Er hatte Hickoks Rat nicht beherzigt, in der Nähe von Feinden stets mindestens ein Auge offenzuhalten. Deshalb war es ihnen gelungen, den jungen Kurier zu überraschen. Sie waren von ihren Pferden gestiegen und hatten sich durch das Buschwerk am anderen Ufer des Creeks angeschlichen. Jetzt standen sie ihm gegenüber und richteten ihre Waffen auf ihn, nur durch das keine sechs Yards breite Gewässer von ihm getrennt. Aber er kannte die drei Männern, die zu Quantrills Bande gehörten und die er hier nicht vermutet hatte. Der Größte von ihnen, der in der Mitte stand, ein pockennarbiger Texaner mit nach unten hängenden Mundwinkeln, die seinem Gesicht einen grausamen Zug verliehen, wurde Jasper genannt. Ein ziemlich brutaler, gemeiner Kerl, mit dem nicht zu spaßen war. Seine beiden Begleiter hörten auf die Namen Morgan und Jones. Sie waren nicht bei Quantrill gewesen, als Cody und Hickok mit George Todds Partisanentrupp nach dem Überfall auf das Depot von Liberty über den Missouri gekommen waren. Also konnten sie nicht wissen, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hatte. Cody, dessen erster Impuls gewesen war, den 44er aus dem Holster zu reißen, beschloß zu bluffen. Lässig schob er seinen Hut nach hinten und rief: »Hallo, Leute! Weshalb richtet ihr eure Waffen auf einen Freund? Habt ihr vergessen, daß auch ich für Quantrill reite?« »Nein, haben wir nicht«, antwortete Jasper in seinem breiten Texasdialekt, ohne seinen auf Cody gerichteten Army Colt sinken zu lassen. »Als wir das Wiehern deiner Pferde hörten, wußten wir nicht, mit wem wir es zu tun haben.« »Jetzt wißt ihr es und könnt eure Schießeisen wegstecken.« »Nicht so hastig«, meinte der Texaner mit unbewegtem Gesicht. »Erklär uns erst mal, was du in dieser Gegend suchst.« »Euch«, setzte Cody seinen Bluff fort, ohne eine Ahnung zu haben, wohin er ihn bringen würde. »Uns?« Zum erstenmal zeigte das pockennarbige Gesicht des Texaners eine menschliche Regung: Erstaunen. »Yeah, der Captain braucht euch, und zwar dringend!« »Quantrill?« vergewisserte sich Jasper. »Wer sonst?« »Aber warum?« Ohne zu wissen, wie der erste Angriff auf Blue Springs verlaufen war und wie nahe er der Wahrheit kam, antwortete der junge Kurier: »Weil er sich beim Angriff auf Blue Springs eine blutige Abfuhr eingehandelt hat. Eine Menge guter Männer haben ins Gras gebissen. Wir brauchen jeden Reiter, um die Stadt zu nehmen. Deshalb sollte ich euch holen.« Jasper zog die Stirn in Falten. Hinter ihr arbeitete es merkbar, aber die Skepsis blieb auf sein Gesicht geschrieben. »Quantrill weiß doch, daß wir wieder zu ihm stoßen, sobald wir die Telegrafenleitung nach Kansas City an mehreren Stellen unterbrochen haben. So lautet unser Auftrag. Wir sind mit der Arbeit fertig und jetzt auf dem Weg zu ihm.« So war das also. Es war ein verdammtes Pech gewesen, daß Cody den drei Guerillas in die Arme geritten war. »Aber ihr sollt euch beeilen und nicht herumtrödeln. Quantrill will den nächsten Angriff auf Blue Springs so schnell wie möglich unternehmen.« »Was will er bloß in dieser Stadt?« »Mir hat er's nicht gesagt«, antwortete Cody. »Euch?« »Nein«, sagte der Texaner, noch immer nicht zufrieden. Er zeigte mit der Linken auf den Schimmel. »Ich kenne das Pferd. Es gehört Matt Boulder. Weshalb reitest du es?« »Weil es schnell ist und weil ich ein schnelles Pferd brauchte. Und Boulder nützt es nicht mehr. Er ist gefallen.« Das war nur die halbe Wahrheit. Boulder konnte mit dem Pferd tatsächlich nichts mehr anfangen, aber er lebte noch. Er gehörte zu den Verletzten, die Quantrill auf der Miller-Farm zurückgelassen hatte. Hatfield, der Arzt aus Blue Springs, hatte Boulder einen Arm abnehmen müssen. Jasper nickte und steckte langsam seinen Sechsschüsser ins Holster. Jones ließ seinen Karabiner sinken, und auch der bullige Morgan steckte seine beiden Revolver zurück an seine Hüften. Cody triumphierte innerlich, bemühte sich aber, das nicht nach außen zu zeigen. Es freute ihn, wie überzeugend seine Lügengeschichte auf die drei anderen gewirkt hatte. Zum erstenmal erkannte er sein außerordentliches Talent, Fakten mit Legenden zu vermischen und andere damit zu beeindrucken. »Holt eure Pferde«, sagte Cody. »Und dann folgt mir. Wir müssen so schnell wie möglich zurück nach Blue Springs.« »All right«, meinte Jasper und wandte sich an den links neben ihm stehenden Morgan. »Hol unsere Gäule.« Der bullige Mann aus Alabama war kaum zwischen Sträuchern und Büschen verschwunden, da stieg Cody in den Sattel des Braunen. Für das, was er jetzt vorhatte, benötigte er ein frisches Pferd. Es würde der mörderischste Ritt seines jungen, aber erlebnisreichen Lebens werden. Er nahm den Schimmel am Zügel und ritt langsam durch den flachen Creek, der den Pferden an seiner tiefsten Stelle gerade mal bis zu den Bäuchen reichte. Als er das andere Ufer erreichte, ließ er den Schimmel los, gab ihm einen festen Klapps auf die Kruppe, stieß einen gellenden Schrei aus und gab gleichzeitig dem Braunen die Sporen, lenkte ihn auf Jasper zu. Der überrumpelte Texaner wollte ausweichen, hob abwehrend die Hände, stolperte über einen flachen Felsen und stürzte zu Boden. Dann war Cody auch schon an ihm vorbei. Aus den Augenwinkeln sah er noch, daß es Jones nicht viel anders ergangen war als Jasper. Der plötzlich wild herumtänzelnde Schimmel hatte Jones veranlaßt, sich mit einem weiten Satz hinter einen Haselnußstrauch in Sicherheit zu bringen. Ganz so, wie es Cody geplant hatte. Zufrieden trieb er den Braunen mit aufmunternden Worten an, während er sich tief über den Hals des Tieres beugte. Nicht nur, um schneller zu sein, sondern auch, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Er war sich bewußt, daß er noch nicht außer Gefahr war. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens krachten hinter ihm Schüsse. Eine Kugel klatschte dicht neben den Vorderhufen des Braunen in den Schlamm, eine andere riß den Hut von Codys Kopf. Er trauerte nicht um den alten Deckel. Wichtiger war, daß er noch lebte. Eine Handbreit tiefer, und die Kugel hätte seinen Kopf erwischt. Plötzlich tauchte Morgan vor ihm auf. Der bullige Mann aus Alabama saß auf einem kräftigen Rappen und hielt die beiden Pferde seiner Begleiter am Zügel. Als er die Situation erfaßt hatte, ließ er die Zügel der beiden reiterlosen Pferde los, um mit der Linken einen seiner Remington-Revolver aus dem Holster zu ziehen. Aber er war zu langsam. Er hatte die Waffe gerade aus dem Leder, als Cody ihn auch schon erreichte und ihn einfach umritt. Durch den Stoß verlor Morgan das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Klatschen in den vom tagelangen Regen aufgeweichten Boden. »So long, Morgan«, rief ihm Cody lachend zu, wandte dann den Kopf wieder nach vorn und lenkte seinen Braunen auf den engen Durchlaß zwischen zwei baumbestandenen Hügeln zu. * Fluchend stieß Jasper seinen leergeschossenen Colt zurück ins Halfter und lief auf Jones zu, der enttäuscht seinen Karabiner sinken ließ. »Ich habe ihn leider auch verfehlt, Jasper. Der Bursche reitet wie der Teufel, vielleicht sogar besser.« »Dann nimm deinen Colt«, zischte der Texaner mit vor Wut verzerrten Zügen und zeigte in die Richtung auf den Dean-Harding-Revolver an Jones' rechter Hüfte. Jones schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Der verfluchte Kojote ist schon zu weit weg.« Wortlos riß Jasper den 44er aus dem Holster seines Gefährten, zielte sorgfältig und gab dann einen Schuß nach dem anderen ab, bis die Trommel leer war. Obwohl der Texaner mit Revolvern umzugehen verstand, blieb der flüchtende Reiter unbehelligt. Nur den Hut riß ihm eine Kugel vom Kopf. Jones hatte recht: Die Entfernung war schon zu groß für gezielte Schüsse mit dem Revolver. »Los, zu den Pferden!« befahl Jasper und gab dem anderen seine Waffe zurück. »Wir müssen ihm hinterher!« »Warum denn, Jasper?« fragte Jones, der nicht zu Gottes klügsten Geschöpfen zählte. »Der Kerl kann uns doch egal sein.« »Das glaube ich nicht. Dann wäre er nicht vor uns ausgerissen. Schätze, Quantrill läßt eine Extraprämie springen, wenn wir den Milchbart einfangen.« »Woher willst du das wissen?« Jasper tippte an seinen Kopf. »Weil ich das hier nicht nur als Hutständer benutze.« Sie liefen Morgan entgegen, der sich gerade vom Boden erhob und sich bemühte, sein Gesicht und seine Kleidung vom Schlamm zu befreien. »Der verdammte Hurensohn hat mich einfach über den Haufen geritten!« schimpfte der Mann aus Alabama. »Wenn wir ihn erwischen, reiten wir ihn über den Haufen«, knurrte Jasper und wollte auf seinen Apfelschimmel steigen. »Das hat doch keinen Sinn, Jasper«, meinte Jones. »Der Bursche reitet ein verdammt schnelles Pferd und stellt sich dabei recht geschickt an. Wir haben keine Chance, ihn einzuholen. Keins unserer Tiere ist so schnell wie sein Brauner. Höchstens Matt Boulders Schimmel. Aber der ist völlig ausgepumpt.« Der Texaner nickte. »Schätze, du hast recht, Jones. Manchmal sagst du richtig kluge Sachen. Aber vielleicht können wir den Burschen auf eine andere Art kriegen.« Mit grimmiger Entschlossenheit im Gesicht zog er den Spencer-Karabiner aus dem Scabbard am Sattel seines Apfelschimmels, ging hinter einem Felsen in die Knie und stützte den Schaft der Waffe auf den Stein. Schnell, aber ohne übereilte Hast, klappte er die Kimme auf und peilte den kleiner werdenden Reiter, der auf den Durchlaß zwischen den beiden großen Hügeln zuhielt, über Kimme und Korn an. Die Entfernung war groß, aber ein Treffer lag im Bereich des Möglichen, gerade noch. Jasper zielte auf Codys Rücken, stieß gleichmäßig den angehaltenen Atem aus und zog den Abzug durch. Der Schuß hallte in seinen Ohren wider. Cody hatte den Paß zwischen den beiden Hügeln fast erreicht, als ihn etwas hart im Rücken traf. So hart, daß es ihn aus dem Sattel warf. Erst als er auf dem weichen Boden landete, hörte er die Detonation des Schusses. Der Braune lief noch ein ganzes Stück weiter, bis ihm bewußt wurde, daß sein Reiter fehlte. Er wurde langsamer, blieb schließlich stehen und wandte seinen Kopf zu dem am Boden liegenden Mann um. Cody wollte aufstehen, aber sein Körper und seine Glieder waren plötzlich schwer wie Blei. Es kostete ihn schon große Mühe, einen Finger zu krümmen. Sich zu dem Pferd schleppen zu wollen, war unmöglich. Wie hatte doch der Prediger in seiner Kinderzeit immer gesagt, wenn er auf die Farmen gefahren war, um säumige Kinder in die Sonntagsschule zu holen: »Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß der Berg eben zum Propheten kommen.« Das versuchte Cody jetzt, als er den Braunen rief. Auch die Stimmbänder des jungen Mannes schienen von der lähmenden Schwere befallen zu sein, die seinen ganzen Körper am Boden hielt. Nur leise und langsam konnte er den Braunen rufen. Der spitzte die Ohren, schien schließlich zu verstehen und trottete langsam auf seinen Reiter zu. Zu langsam! Hinter sich hörte Cody Hufgetrappel. Dann schwanden ihm die Sinne. »Sie müssen pressen, Ma'am, viel stärker pressen!« rief, ja schrie Beth fast verzweifelt. Virginia Cordwainer warf sich unter Schmerzen in ihrem Bett hin und her, über und über mit Schweiß bedeckt, wie es auch die beiden anderen Frauen waren. »Es. geht einfach, nicht.«, keuchte die Schwangere mit letzter Kraft und schmerzverzerrtem Gesicht. Ihre Züge entspannten sich ein wenig, und sie sah Irene an. »Es stimmt etwas nicht mit dem Kind, nicht wahr?« Die junge Deutsche seufzte tief. Immer und immer wieder hatten sie es versucht, aber trotz aller Anstrengungen wollte es nicht gelingen, Virginias Kind auf die Welt zu holen. Als hätte es im letzten Moment erkannt, welch grausamer Krieg hier draußen tobte, und deshalb beschlossen, im warmen, sicheren Leib der Mutter zu bleiben. Aber seine Mutter litt unsagbar unter den Schmerzen. Virginia strengte sich derart an, daß Irene befürchtete, sie könnte diesen Tag nicht überstehen. »Antworten Sie doch, Irene!« bettelte die Frau im Bett, Tränen in den Augen. »Wir befürchten, daß Ihr Kind quer liegt«, sagte Irene leise. »O Gott«, stieß Virginia hervor, bevor sie wieder von den Schmerzen überwältigt wurde und laut zu stöhnen begann. Irene blickte fast flehend zum Fenster hinaus und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, Dr. Hatfield möge es irgendwie schaffen, Quantrill zu entkommen und sich in die Stadt durchzuschlagen. * Als das Knacken der Zweige von irgendwo da draußen im dichten Unterholz an seine Ohren klang, zuckte Edwin Hatfield zusammen, sah erschreckt auf und benötigte ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Gegen seinen Willen war er eingeschlafen, obwohl ihm Hickok eingeschärft hatte, auf der Hut zu sein. Aber der fehlende Schlaf und die hinter ihm liegenden Anstrengungen hatten den Arzt einfach überwältigt. Die täuschende Friedfertigkeit des ihn umgebenden Waldes hatte seine Sinne eingelullt und ihn schließlich in den Schlaf gewiegt. Er saß auf einem großen Stein, mit dem Rücken an den mächtigen Stamm einer alten Eiche gelehnt. Jetzt erhob er sich hastig und zog den Revolver aus dem Waffengurt. Beides hatte einem von Quantrills Guerillas gehört. Doc Hatfield war nie ein Mann der Waffe gewesen, konnte aber zur Not recht leidlich mit Revolver und Gewehr umgehen. Als er mit Hickok die Miller-Farm verließ, hatte er die Waffen eines der dort liegenden verwundeten Partisanen an sich genommen. Es war bereits Nachmittag, und sie hatten Blue Springs fast erreicht. Je näher sie der Stadt kamen, desto größer wurde die Gefahr, Quantrills Schwarzer Brigade in die Arme zu laufen. Hickok war allein vorausgeritten, um das Terrain zu sondieren. Hatfield sollte im Schutz dieses dichten Waldes auf ihn warten. Kehrte Hickok jetzt zurück? Oder war der Kundschafter von Quantrill erwischt worden, und jetzt kamen die Guerillas, um Hatfield zu holen? Oder hatte der Arzt nur ein Geräusch gehört, das von einem umherstreifenden Tier verursacht worden war? Die quälende Ungewißheit ließ das Herz des alten Mannes bis zum Hals schlagen. Wieder hörte er ein Knacken im Gebüsch und sah dann undeutlich eine schemenhafte Gestalt, die sich durch das Unterholz auf ihn zubewegte. Hatfield brachte den Revolver in Anschlag, stützte den langen Lauf auf seinen linken Unterarm und zog den Hahn zurück. »Schießen Sie nicht, Doc«, rief eine ihm bekannte Stimme. »Ich bin's, Hickok.« Es war die Stimme Hickoks. Aber konnte es nicht trotzdem eine Falle sein? Vielleicht folgten ihm Quantrills Männer. »Sind Sie allein?« fragte der Arzt laut. »Nur mein Pferd und ich, Doc.« »Dann kommen Sie!« Hatfield hielt den Revolver weiterhin auf die Gestalt gerichtet, die jetzt die Lichtung betrat, einen Rappen am Zügel führend. »Verfluchtes Unwetter«, schimpfte James Butler Hickok und verzog sein Raubvogelgesicht zu einer sauren Miene. »Es hat so viele Äste und Zweige von den Bäumen gerissen, daß sich nicht mal eine Maus lautlos durch den Wald bewegen könnte.« Er zeigte auf den Revolver des Arztes. »Stecken Sie Ihren Schießprügel lieber weg, Doc, sonst löst sich noch ein Schuß. Wäre mir gar nicht angenehm, wenn er mich träfe. Aber mein Kompliment für Ihre Wachsamkeit.« »Von wegen«, brummte Hatfield, als er die Waffe zurück ins Holster schob. »Ich war eingenickt, bevor Sie kamen.« »Sie sind rechtzeitig aufgewacht, das zählt.« »Mag sein. Welche Neuigkeiten haben Sie, Hickok?« »Mäßige. Noch halten die Verteidiger Blue Springs. Aber Quantrills Männer haben die Stadt eingekesselt. Da kommt nicht mal ein Wildkaninchen durch.« »Und was tun wir jetzt?« »Durchbrechen.« »Aber Sie haben doch eben gesagt.« »Ich weiß«, unterbrach Hickok den Satz des Arztes. »Aber wir haben keine andere Möglichkeit, wenn wir den Leuten in der Stadt beistehen wollen. Schließlich können wir Quantrill nicht höflich fragen, ob er uns durchläßt.« Hatfield nickte schwer und seufzte: »Das sehe ich ein. Aber wie gehen wir vor? Haben Sie einen Plan?« Der Kundschafter rückte seinen dunklen, schmalkrempigen Hut zurecht und grinste. »Sicher doch. Wir reiten in Richtung Blue Springs, bis wir Quantrills Linien erreichen. Dann geben wir unseren Pferden die Sporen und halten direkt auf die Stadt zu, als sei der Teufel hinter uns her.« Hickoks Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. »Was er ja auch ist.« »Wann reiten wir los?« »Sofort. Wir sollten es angehen, bevor Quantrill seinen nächsten Angriff auf die Stadt unternimmt.« Sie packten ihre wenigen Sachen zusammen und führten die drei Pferde aus dem dichten Wald heraus. Das dritte, reiterlose Pferd trug Hatfields große schwarze Arzttasche und den Sack mit den erbeuteten Waffen der verwundeten Quantrill-Männer, die Hickok und Hatfield auf der Miller-Farm überwältigt und dort zurückgelassen hatten. Als der Wald lichter wurde, stiegen sie in die Sättel und ritten auf einem von Hickok ausgesuchten, wegen der vielen Bäume und Hügel ausreichend Schutz vor frühzeitiger Entdeckung versprechenden Weg zur Stadt. Wasser! Er spürte Wasser in seinem Gesicht. Es war angenehm kühl und frisch und brachte das Leben in ihn zurück, holte ihn aus der tiefen Dunkelheit des Vergessens, in die er gestürzt war. Als Will Cody die Augen aufschlug, wünschte er sich, er wäre in dem schwarzen Loch geblieben. Drei Männer umstanden ihn: Jasper, Morgan und Jones. Ihre Gesichter verhießen nichts Gutes. Jones hielt eine Feldflasche in der Rechten, aus der er einen beständigen Wasserstrahl auf das Gesicht des Verwundeten niederplätschern ließ. Jetzt unterbrach er die Behandlung, schraubte die Blechflasche zu und hängte sie zurück an seinen Sattel. »Das Stinktier ist wach«, knurrte er und spuckte dem Verletzten mitten ins Gesicht. »Yeah«, brummte Morgan. »Es ist zäh wie Leder. Einem anderen hätte Jaspers Schuß leicht das Lebenslicht ausgeblasen.« »Meine Kugel hat ihn dicht unter der linken Schulter erwischt«, sagte der Texaner. »Etwas weiter nach rechts, und der Stinkstiefel wäre tatsächlich hinüber gewesen. Ich hätte es ihm gegönnt. Aber vielleicht ist es ganz gut so. Er kann uns ein paar Fragen beantworten.« Unerwartet hieb er die Spitze seines Stiefels in Codys Seite. »Das tust du doch, oder?« Der Schmerz, der von seiner Schulter ausging und in heftigen, kurz aufeinander folgenden Wellen seinen ganzen Körper überflutete, raubte Cody fast die Luft zum Atmen. Jaspers harter Tritt verstärkte die Schmerzen noch und warf den Verwundeten zurück ins Dunkel. Er ließ sich nur zu gern in das tiefe, schwarze Loch fallen, das Erlösung von seinen Schmerzen versprach, zumindest aber das zeitweise Vergessen. »Er ist tot«, stellte Morgan ohne Mitleid fest. Jasper kniete sich neben Cody und untersuchte ihn kurz. »Noch nicht ganz. Aber wenn wir ihn nicht verbinden, ist er es bald.« »Warum sollten wir ihn verbinden?« fragte Jones. »Laßt ihn doch krepieren!« »Vielleicht möchte der Captain ihm ein paar Fragen stellen, du Hornochse«, knurrte Jasper und begann, Codys Hemd in Streifen zu reißen, um daraus einen Verband für den Verletzten zu fertigen. »Helft mir! Je eher wir wieder bei Quantrill sind, desto besser. Ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird.« Als sie mit der Arbeit fertig waren, luden sie Cody wie einen Sack auf den Braunen, den er zuletzt geritten hatte, so daß die Arme des Verletzten auf der einen und seine Beine auf der anderen Seite herunterhingen. In dieser Lage banden sie ihn fest. Es war nicht die gesündeste Haltung für einen Schwerverletzten, aber das war ihnen gleichgültig. Wenn Cody starb, ging die Welt für sie nicht unter. Die Sonne im Rücken, ritten sie ostwärts, in Richtung Blue Springs. Die beiden Reiter, die Blue Springs fast erreicht hatten, wurden langsamer, als der vordere die Hand hob. »Hinter der nächsten Hügelkette liegen Quantrills Männer«, sagte Hickok leise, als bestände die Gefahr, gehört zu werden. »Wir werden jetzt langsam weiterreiten und die Pferde antreiben, sobald sie uns bemerken.« Er reichte dem Arzt die Zügel des Packpferds. »Nehmen Sie den, Gaul, Doc? Ich glaube, es wird besser sein, wenn ich eine Hand zum Schießen frei habe.« »Natürlich«, sagte Hatfield und nahm die Zügel in die Hand. »Schießen könnte ich zwar auch, aber mit dem Treffen habe ich so meine Probleme, besonders beim Reiten.« Hickok überprüfte den Sitz der beiden Navy Colts, die mit den Griffen nach vorn in der roten Schärpe steckten, die er anstelle eines Waffengurts um seinen Leib gebunden hatte. »Machen Sie sich keine Gedanken um die Schießerei, Doc. Bemühen Sie sich nur, die Stadt schnell zu erreichen und ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Alles andere ist mein Problem.« Der Arzt warf seinem Begleiter einen skeptischen Blick zu. »Was haben Sie vor?« »Notfalls unter Quantrills Leuten ein bißchen Verwirrung stiften. Aber keine Angst, ich bin nicht lebensmüde.« Er schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd an. Hatfield folgte ihm in derselben langsamen Gangart. Als sie auf die Kuppe eines Hügels kamen, hielten sie im Schatten einer Baumgruppe erneut an. Quantrills provisorisches Lager lag jetzt offen vor ihnen. Die Männer dort waren emsig beschäftigt, zusammengetragenes Reisig auf die Wagen zu laden, die George Todds Trupp vom Überfall auf das Liberty-Depot mitgebracht hatte. »Keine Wachen nach dieser Seite hin«, stellte Hatfield überrascht und erleichtert zugleich fest. »Quantrill scheint sich sehr sicher zu fühlen.« »Das kann er auch«, meinte Hickok. »Schließlich weiß er nicht, daß Cody zu General Ewing unterwegs ist. Quantrill glaubt, mit Gus Petersons Tod jede Gefahr, daß ihm jemand in den Rücken fallen könnte, ausgeschaltet zu haben.« Der Arzt zeigte auf die Wagen. »Was haben die Bushwackers mit den Munitionswagen vor?« »Etwas Schlimmes für die Leute in der Stadt, wenn es das ist, was ich vermute. Wir scheinen gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein. Der Angriff steht kurz bevor.« Hickok zog sein Fernglas aus der Satteltasche und beobachtete dadurch das Treiben von Quantrills Männern. Seine Vermutung wurde bestätigt. Etwa zwei Drittel der erbeuteten Munition waren von den Wagen geladen worden. Das restliche Drittel an Munitionskisten und Pulverfässern war fest vertäut worden und wurde jetzt mit Reisig unterfüttert. Brennbares Material! Vier der insgesamt sechs Wagen wurden auf diese Weise hergerichtet. Vor jeden dieser vier Wagen wurden vier Zugpferde oder Maultiere gespannt. Hickok steckte das Fernglas wieder ein und sah Hatfield an. »Brechen wir auf, Doc. Quantrill wartet nicht auf uns. Ich wünsche Ihnen Glück!« Hatfield musterte den anderen mit einem langen Blick. Anfangs hatte er ihn und seinen Freund Cody für üble Raufbolde gehalten, die sich an ihm vergehen wollte. Aber es war nur ein Trick gewesen, um Quantrill über ihre wahren Absichten zu täuschen. Trotz seines Raubvogelgesichts, das ihm ein hartes, auf den ersten Blick furchteinflößendes Aussehen verlieh, hatte Hickok das Herz auf dem rechten Fleck. Hatfield hoffte, daß der Kundschafter diesen Teufelsritt überstand. »Ich Ihnen auch«, sagte der Arzt und trieb sein Reitpferd an, das Packtier hinter sich herziehend. Er und Hickok ritten nebeneinander den Hügel hinunter, ganz gemächlich auf Quantrills Lager zu. Auch als die ersten Guerillas durch das Hufgeräusch auf die beiden Reiter aufmerksam wurden, behielten sie die gemächliche Gangart ihrer Pferde bei. Je näher sie dem Lager kamen, bevor sie erkannt wurden, desto besser. »He, das sind Hickok und der Quacksalber!« rief einer der Freischärler seinen Kameraden zu. »Jetzt!« zischte Hickok und gab seinem Pferd im selben Augenblick die Sporen. Hatfield tat es ihm nach, und sie sprengten auf Quantrills Männer zu. Zu ihrem Glück hatten sich letztere auf einen Kreis um die Stadt verteilt, so daß die Linie, die sie durchbrechen mußten, nur dünn war. Nur noch etwa fünfzig Yards trennten sie von den Guerillas, als diesen bewußt wurde, daß Hickok nicht länger einer der ihren war und daß er und der Arzt nicht in freundlicher Absicht kamen. Die ersten Freischärler rissen ihre Revolver aus den Holstern. Aber Hickok war schneller, hatte die Zügel seines Rappen in die Linke gewechselt und mit der Rechten einen seiner Navy Colts gezogen. Von vier abgefeuerten Kugeln fanden drei ihr Ziel, und drei Südstaatler brachen zusammen. Der Mann, den er verfehlt hatte, erwiderte das Feuer, traf in seiner Hast aber nicht. Hickok riß sein Pferd herum und ritt ihn über den Haufen. »Reiten Sie, Doc, reiten Sie!« schrie der Kundschafter dem Arzt nach, der seine beiden Pferde mitten durch die aufgeschreckten Guerillas trieb. Hickok richtete seinen Colt auf den ihm am nächsten stehenden Munitionswagen und jagte die beiden letzten Kugeln aus dem Lauf. Sie trafen ihr Ziel, eins der Pulverfässer auf dem Wagen, der in einer gewaltigen Explosion verging. Die aufgeschreckten und verletzten Zugpferde liefen los und zogen den lichterloh brennenden Wagen, auf dem noch immer Munitionskisten explodierten, mit sich, dadurch weitere Unruhe unter den Guerillas stiftend. Darauf hatte Hickok gehofft. Er trieb seinen Rappen wieder an, Doc Hatfield nach, und wechselte gleichzeitig den leergeschossenen Colt mit seiner zweiten Waffe aus. Als eine Kugel dicht an seinem Ohr vorbeipfiff, drehte er sich mitten im Galopp um und sah den Mann, den er umgeritten hatte. Er kauerte mit schmerzverzerrtem Gesicht im Dreck, hatte seinen Revolver in beide Hände genommen und zielte erneut auf den fliehenden Scout. Hickok sandte zwei Kugeln nach ihm aus, und beide trafen. Tot sackte der Freischärler über seiner Waffe in den schlammigen Boden. Der Kundschafter holte den Arzt ein, als sie die letzte Hügelkette vor der Stadt überquerten und Quantrills Stellung hinter sich ließen. Die Guerillas hatten sich von der Überraschung erholt, liefen den beiden Reitern hinterher und ließen einen regelrechten Kugelhagel auf sie niederprasseln. Wie durch ein Wunder blieben sie unverletzt. Vor ihnen füllte die Stadt mit ihren verbarrikadierten Straßen fast den gesamten Horizont aus. Die Verteidiger schienen zu begreifen, um was es ging, und öffneten eine Lücke in den Barrikaden. »Dorthin, Doc!« schrie Hickok und zeigte auf die Lücke am Ostende der Main Street. Der Arzt nickte und lenkte sein Pferd auf den Durchlaß zu, als Hatfield plötzlich nach vorn zusammensackte. Eine Kugel hatte ihn getroffen. Sein Begleiter konnte nicht erkennen, wo. Jedenfalls hielt sich Hatfield noch im Sattel. Hickok wollte sich an seine Seite begeben, um ihn nötigenfalls zu stützen. Da stieß sein Rappe ein langgezogenes Wiehern aus und überschlug sich mitten im Galopp. Hickok wurde im hohen Bogen aus dem Sattel geschleudert, schlug mit dem Rücken hart auf dem Boden auf und bekam keine Luft mehr. Es dauerte unendlich lange Sekunden, bis er endlich wieder atmen konnte. Sein angeschossenes Pferd wälzte sich ein Stück entfernt unter Schmerzen im Schlamm. Hickok sah zur Stadt und registrierte, daß Hatfield gerade hinter den Barrikaden verschwand. Der Scout war noch fünfzig Yards von der Stellung der Verteidiger entfernt. Als er die Reiter bemerkte, die von den Hügeln kamen, um ihm den Garaus zu machen, stand er ächzend auf, um sich zu Fuß in Sicherheit zu bringen. Aber er brach schon nach dem ersten Schritt wieder zusammen, als ein stechender Schmerz durch seinen rechten Fuß fuhr. Er mußte ihn sich bei seinem Sturz verstaucht haben. Er sah ein, daß er den schnell näherkommenden Reitern ohne Pferd unmöglich entkommen konnte. Also mußte er sich verteidigen. Wahrscheinlich würde er es nicht überleben, aber er wollte seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Der leergeschossene Colt steckte noch in seiner Schärpe. Aber den zweiten Revolver hatte er beim Sturz verloren. Als er hastig die Gegend absuchte, entdeckte er ihn nur ein paar Schritte entfernt. Er kroch zu seiner Waffe, in deren Trommel noch vier Patronen steckten, nahm sie auf und erlöste mit dem ersten Schuß den Rappen von seinen Qualen. Die drei übrigen Kugeln schickte er den Reitern entgegen. Einer flog aus dem Sattel. Ein zweiter schrie auf und krümmte sich, sein Pferd zügelnd, getroffen zusammen. Die übrigen aber, ungefähr zwanzig, hielten entschlossen auf Hickok zu und begannen ihn unter Feuer zu nehmen. Hinter den Barrikaden knatterte plötzlich Gewehrfeuer, und mehrere Guerillas wurden von ihren Pferden gerissen. Die Verteidiger von Blue Springs gaben Hickok Feuerschutz. Aber was nützte es ihm? Die an sich lächerliche Entfernung von fünfzig Yards war viel zu weit für seinen verletzten Fuß. Wenn er sich mühevoll zur Stadt schleppte, würde ihn bestimmt eine Kugel in den Rücken treffen. Mindestens eine. Also tat er das einzige, was ihm übrigblieb: Er steckte den leergeschossenen Colt zurück in die Schärpe, erhob sich mit fest zusammengebissenen Zähnen und humpelte Quantrills Männern entgegen. Während die meisten von ihnen vor dem massiven Feuer der Verteidiger flohen, hielten drei Reiter weiter auf Hickok zu. Der vorderste hatte ihn fast erreicht, zügelte zwei Pferdelängen vor ihm seinen Grauschimmel und richtete seinen Revolver auf den Scout. Für den Freischärler unvermittelt stieß Hickok laute, gellende Schreie aus, die er von Indianern gelernt hatte. Die schrille Tonfolge erschreckte das Pferd, das laut wiehernd auf die Hinterhufe stieg. Bei dem Versuch, den Grauschimmel zu bändigen, verlor der Reiter seinen Revolver. Hickok ergriff die Waffe und schoß ihren Besitzer aus dem Sattel. Als auch der zweite der drei Guerillas zu Boden flog, wendete der dritte sein Tier in panischem Schrecken und stob davon. Hickok beruhigte den Grauschimmel, bestieg ihn und galoppierte auf die rettenden Barrikaden zu. Hinter ihnen rutschte er erleichtert aus dem Sattel und suchte Doc Hatfield, während die Verteidiger die Lücke in ihrer Stellung wieder mit Kisten, Fässern und Sandsäcken schlossen. Hatfields Pferde standen ganz in der Nähe. Der Arzt selbst saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, den Rücken an die Wand eines Pferdestalls gelehnt. Er rührte sich nicht. Sein Kopf war blutüberströmt. * Virginia war kaum noch ansprechbar. Sie verfiel zusehends in einen Zustand der Apathie. Die unerträglichen Schmerzen und die Ausweglosigkeit ihrer Situation schienen ihr den Verstand zu rauben. Die schwangere Frau schrie nicht mehr, stöhnte nur noch, wimmerte leise vor sich hin und flehte ihren Schöpfer an, sie doch endlich sterben zu lassen. Ratlos standen Irene und Beth neben ihrem Bett, auf dessen Laken sich ein immer größerer Blutfleck bildete. »Mrs. Cordwainer blutet«, sagte Beth fast tonlos. »Das Kind muß etwas in ihr zerstört haben.« Irene erwiderte nichts. Sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Es war eine Qual, danebenstehen und mitansehen zu müssen, wie die Mutter und ihr ungeborenes Kind langsam eingingen. Sie hatten alles versucht, sogar eine Massage des Mutterleibs, um das Baby in die richtige Stellung zu bringen. Beth hatte als Kind mitangesehen, wie ein querliegendes Kalb auf diese Weise auf die Welt geholt wurde. Das Kalb war zwar tot, aber die Mutter hatte wenigstens überlebt. Bei der kalbenden Kuh mochte es geklappt haben, aber Irene und Beth hatten sich vergeblich abgemüht. »Mrs. Cordwainer wird sterben«, flüsterte Beth. Es klang, als wäre sie sich dessen völlig sicher. Und als empfände sie große Trauer darüber. »Sie mögen Mrs. Cordwainer sehr?« fragte Irene. Beth nickte, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich kenne sie schon, seit sie ein Kind war. Ich habe früher für Mr. Lawrence gearbeitet. Mrs. Cordwainer hat mich mit in dieses Haus genommen, um nicht.« Die Schwarze brach ab, weinte nur noch. »Um nicht völlig allein zu sein?« setzte Irene den Satz fort. Beth nickte. Irene wollte ihr etwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb streichelte sie einfach nur ihren Arm. Beth sah sie dankbar an. Das plötzliche Klopfen an der Tür ließ die beiden Frauen vor Schreck zusammenzucken. Sie hatten keine Schritte auf dem Gang gehört. »Herein«, sagte Irene und dachte an Martin. Aber der Mann, der jetzt ins Zimmer trat, war nicht ihr Freund vom Auswandererschiff. Es war ein kleiner älterer Mann mit einem großen weißen Schnauzbart. Um seinen Kopf war turbanartig ein blutiger Verband gewickelt. Er trug eine große schwarze Tasche bei sich. »Doc Hatfield!« schrie das schwarze Hausmädchen freudig erregt. Der Arzt nickte knapp und sah dann besorgt auf das Bett, wo sich Virginia in kovulsivischen Zuckungen wand. »Sieht so aus, als sei ich gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Edwin Hatfield, stellte seine Tasche neben dem Bett ab, zog seine Jacke aus und krempelte die Hemdsärmel hoch. »Können Sie Mrs. Cordwainer noch helfen, Doktor?« fragte Beth mit banger Hoffnung. Ein Zucken lief durch Hatfields Gesicht. Er antwortete nicht, fragte nur, wo er sich die Hände waschen könnte. Während Hatfields Wunde gereinigt und verbunden wurde, erzählte Hickok Byron Cordwainer und seinen Männern in knappen Worten, was sich ereignet hatte. Zum Glück war der Arzt nur von einem Streifschuß getroffen worden. Die stark blutende Wunde sah schlimmer aus, als sie war. Hatfield wollte sich als erstes um Hickoks verstauchten Fuß kümmern, aber als sie von Virginia Cordwainers prekärer Lage erfuhren, sagte der Scout: »Kümmern Sie sich rasch um die Frau, Doc! Bei mir sind schon schlimmere Verletzungen von selbst verheilt.« Draußen vor den Barrikaden, war es wieder ruhig. Die Reiter, die Hickok und Hatfield verfolgt hatten, hatten sich zurückgezogen. Zwei waren, wahrscheinlich tot, zurückgeblieben. Sie lagen im Dreck, und niemand, kümmerte sich um sie. Soldatenschicksal, durchfuhr es Jacob Adler, der mitgeholfen hatte, die Lücke in den Barrikaden wieder zu schließen. Jetzt kauerte er, den Karabiner in den Händen, in seiner Stellung und lauschte der Erzählung des hakennasigen Mannes mit der auffälligen roten Schärpe. Jacob hatte sich in seiner Heimat nicht danach gedrängt, den Militärdienst für den König von Preußen abzuleisten. Die Umstände, die zu seiner überstürzten Flucht nach Amerika geführt hatten, verhinderten, daß er diesen Dienst antrat. Er war nicht traurig darüber, hatte das Benutzen von Schußwaffen immer gehaßt. Jetzt war er gezwungen, sie zu benutzen und andere Menschen vielleicht zu töten. Er mußte es tun, um die Menschen, die ihm am Herzen lagen, zu beschützen. Das Schicksal ließ sich nicht betrügen. Er war jetzt doch eine Art Soldat, auch wenn er keine Uniform trug. Aber der Mann, der die Verteidigung von Blue Springs leitete, trug eine Uniform, den blauen Waffenrock eines Majors. Byron Cordwainer hatte sich diesen Rang während der Indianerkriege bei den regulären Truppen erworben. Aus dem regulären Dienst war er ausgeschieden, aber Rang und Waffenrock trug er als Anführer einer irregulären Reiterkompanie weiterhin. Jacob hatte darüber nachgedacht, inwieweit sich Cordwainers Jayhawkers von Quantrills Bushwackers unterscheiden mochten, aber er war zu keinem Ergebnis gelangt. Letztlich war es müßig, darüber zu spekulieren. Die Auswanderer und ihre Mitreisenden saßen mit Cordwainers Leuten in einem Boot. Ihr gemeinsamer Feind war Quantrills Schwarze Brigade, und das hielt sie zusammen. »Wie schätzen Sie die Lage ein, Mr. Hickok?« fragte Cordwainer, nachdem der Kundschafter seinen Bericht beendet hatte. »Für uns nicht sehr gut.« »Aber wir haben hier eine gute Befestigung«, sagte der Major und zeigte auf die Barrikaden. Hickok blieb unbeeindruckt. »Nicht mehr lange, wenn Quantrill erst die Wagen einsetzt.« »Was für Wagen?« . »Haben Sie eben die gewaltige Explosion gehört?« »Ja«, antwortete Cordwainer, sah den Scout aber weiterhin verständnislos an. »Das war ein mit Pulverfässern und Munitionskisten beladener Wagen. Ich habe ihn hochgehen lassen. Aber die Rebellen haben noch mehr davon. Wenn sie es schaffen, die Wagen an unsere Stellungen zu bringen, haben wir die längste Zeit Barrikaden gehabt.« Allmählich zeichnete sich Erkenntnis auf dem asketischen Gesicht des Majors ab. Er wollte noch eine Frage stellen, wurde aber durch Schüsse unterbrochen, die vom Westteil der Stadt herüberklangen. Und dann rief einer der Männer hinter den östlichen Barrikaden: »Sie kommen! Quantrill greift an!« Der Wagen rumpelte einen steilen Hügel hinunter. Die große knochige Frau auf dem Bock hatte Mühe, die Zugpferde davon abzuhalten, schneller zu laufen. Das neunzehnjährige Mädchen, das neben ihr saß, warf den beiden Kleppern immer wieder ängstliche Blicke zu. »Gut so, Agnes«, rief Ben Miller, der auf einem Pferd saß, seiner Frau zu. »Du machst das sehr gut. Die Geschwindigkeit ist genau richtig. Sieh nur zu, daß die Gäule nicht schneller werden.« »Mach ich schon, Ben«, antwortete Agnes Miller und strengte sich weiter an, die Pferde zurückzuhalten. Schließlich trug sie die Verantwortung für sich und ihre beiden Töchter: Cora, die neben ihr auf dem Bock saß, und die kleine, fieberkranke Ann, die zwischen den wichtigsten Habseligkeiten der Millers hinter ihr in dem planenüberspannten Kastenwagen lag. Ben Miller hätte natürlich den Platz mit seiner Frau tauschen können, um den Wagen selbst den Hügel hinunterzusteuern. Aber Agnes hatte das nicht gewollt. Die Farmerin hatte schon öfter einen Wagen gelenkt und traute sich zu, mit dem Gespann umzugehen. Auch wollte sie ihrem Mann nicht zuviel zumuten. Als Quantrills Guerillas auf ihre Farm gekommen waren, hatte Ben einen Streifschuß am Kopf abbekommen. Er trug noch den Verband, den Doc Hatfield ihm angelegt hatte. Ben gab vor, keine Beschwerden mehr zu haben. Aber wenn er sich unbeobachtet glaubte, lag ein gequälter Ausdruck auf seinem Gesicht. Wären die Kinder nicht gewesen, hätte Agnes ihn schon darauf angesprochen. Doch sie wollte ihre Kinder nicht noch mehr verängstigen, als sie es ohnehin schon waren. Und Agnes wollte mit einem Fahrerwechsel keine wertvolle Zeit verlieren. Denn die Millers waren auf der Flucht. Auf der Flucht vor Quantrills wilder Horde. Sie wußten nicht, ob sie verfolgt wurden, aber es konnte gut sein. Der Weg nach Kansas City war noch weit. Hätten Doc Hatfield und die beiden Fremden, Hickok und Cody, die von Quantrill auf der Miller-Farm zurückgelassenen Verwundeten nicht überwältigt, befände sich die Farmerfamilie noch immer in der Gewalt der Südstaatler. Jetzt flohen sie mit ihrer wichtigsten Habe nach Kansas City, um im Schutz der dortigen Garnison abzuwarten, bis es in der Gegend um Blue Springs wieder ruhiger zuging. Als der Wagen wohlbehalten das abschüssige Gelände hinter sich gelassen hatten, brannten die Zügel in den Händen der Farmerin. Sie schnalzte mit der Zunge und trieb die Pferde zu schnellerer Gangart an. Dann wandte sie sich an Cora: »Klettere mal nach hinten und schau nach deiner Schwester!« »Ja, Ma.« Cora verschwand unter der Plane, die über den alten Kastenwagen der Millers gespannt war. »Ann ist wach«, rief Cora. »Ich bleibe bei ihr und mache ihr ein paar feuchte Umschläge.« »Ist gut«, erwiderte ihre Mutter und sah besorgt zu Ben, der seinen Braunen zum Wagen lenkte. »Wo Johnny nur bleibt?« »Ich weiß nicht«, brummte Ben und kniff die Augen zusammen, als er nach Westen blickte, um eine Spur von seinem Sohn zu entdecken. Der sechzehnjährige Johnny war vor einer Stunde auf seinem Fuchs vorausgeritten, um die Gegend zu erkunden. Weniger, um mögliche Gefahren zu entdecken, mit denen vor ihnen nicht zu rechnen war, als um eventuelle Hilfe auszukundschaften. Vielleicht fand er eine Möglichkeit, das Militär rasch über Quantrills Auftauchen bei Blue Springs zu informieren. Zwar war der junge Cody mit zwei schnellen Pferden nach Kansas City aufgebrochen, aber die Leute in Blue Springs waren sicher für jede Stunde dankbar, die das Militär ihnen eher zu Hilfe kam. Ben Miller konnte nicht ahnen, wie sich zwischenzeitlich die Lage in der Stadt zugespitzt hatte. Und daß die Verteidiger der Stadt auf Will Cody nicht mehr hoffen durften. Der Farmer hielt sein Pferd an und verlängerte den Schatten, den die verbogene Krempe seines Filzhutes warf, mit der flachen, an die Krempe gehaltenen Hand. Aber so sehr er auch die von sanften Hügeln und kleinen Wäldern beherrschte Gegend vor sich absuchte, von seinem Sohn fehlte jede Spur. »Es war ein Fehler«, murmelte Ben Miller so leise, daß es seine Frau vorn auf dem Wagen nicht hören konnte. »Ich hätte Johnny nicht allein vorschicken dürften, nicht in solchen Zeiten.« Aber waren die Zeiten im Gebiet zwischen Kansas und Missouri, das man wegen der vielen Unruhen auch die »blutige Grenze« nannte, jemals besser gewesen? Falls es so gewesen war, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Mit einem unwilligen Kopfschütteln trieb er den Braunen an und holte den Wagen ein. Das Kopfschütteln hätte er lassen sollen. Es brachte die starken, übelkeitserregenden Schmerzen zurück, die seinen Schädel seit dem Streifschuß heimsuchten. Er bemühte sich, es vor seiner Frau zu verbergen. Ohne Erfolg. »Fehlt dir etwas, Ben?« fragte Agnes im Flüsterton. Ihr Gesicht war ein Spiegel ihrer Besorgnis. »Nur Kopfschmerzen«, meinte Ben und zwang sich tapfer zu einem Lächeln. »Nichts Ernstes.« »Du solltest dich in Kansas City noch mal von einem Arzt untersuchen lassen. Nur zur Vorsicht.« »Ja, in Kansas City.« Wieder suchten Ben Millers Augen das vor ihm liegende Land ab. »Wenn wir nur schon da wären.« Seine Frau warf ihm einen weiteren besorgten Blick zu. »Du hörst dich an, als hättest du vor etwas Angst, Ben.« Der Mann wollte seinen Kopf schütteln, unterließ es aber im letzten Augenblick. »Nicht vor etwas Bestimmtem. Nur vor den Gefahren, die in dieser unruhigen Zeit überall lauern. Manchmal denke ich, wir sollten aus diesem Land verschwinden und uns einem der Trecks anschließen, die von Kansas City ins Oregon-Gebiet fahren.« »Auch da lauern überall Gefahren«, wandte die Frau ein. »Ja. Aber die Menschen fallen nicht wie hungrige Wölfe übereinander her, nur weil sie verschiedene politische Ansichten vertreten.« Eine Weile ritt Ben Miller schweigend neben dem Wagen her und hing seinen Gedanken nach. Bis seine Frau sagte: »Ben, ich glaube, da kommt uns ein Reiter entgegen! Ist es Johnny?« Diesmal hielt der Farmer sein Pferd nicht an, kniff nur erneut die Augen zusammen und legte wieder die Hand an die Hutkrempe. Ja, ein Reiter näherte sich dem Wagen, aber auf die Entfernung konnte er ihn nicht erkennen. Ben Miller hätte nicht mal zu sagen vermocht, ob es ein Weißer, ein Schwarzer oder ein Roter war. Der Reiter ritt sehr schnell und verschwand hinter einem Baumgürtel. Wenn er wieder auftauchte, würde er in Schußweite sein. Der Farmer war vorsichtig geworden. Er zog den von ihm stets gut gepflegten Gallagher-Hinterlader aus dem Scabbard und legte den Karabiner quer vor sich über den Sattel. »Halte den Wagen an und geh hinein zu den Mädchen«, sagte er zu seiner Frau. Agnes zügelte die Pferde und zog die knarrende Bremse fest. Aber sie kletterte nicht zu ihren Töchtern unter die Plane, sondern griff hinter sich und holte den Richmond-Karabiner hervor, der einem der verwundeten Quantrill-Männer gehört hatte. »Was tust du?« fragte Ben stirnrunzelnd. »Das siehst du doch«, antwortete seine Frau, während sie den Hahn spannte. »Ich stehe meinem Mann bei.« Ben murmelte etwas Unverständliches in seinen Stoppelbart, aber ein stilles Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war stolz und glücklich, daß er sich stets auf seine Familie verlassen konnte. Wenn das ein Mann in diesem wilden Land nicht konnte, besaß er schlechte Karten. Der Reiter tauchte hinter den Bäumen auf und schwenkte seinen Hut. Jetzt erkannten die Millers ihn und auch sein Pferd mit dem rötlich schimmernden Fell. »Es ist Johnny!« stieß Agnes erleichtert hervor und ließ vorsichtig den Hahn ihres Karabiners zurückgleiten, um die Waffe wieder in der Ablage hinter dem Bock zu verstauen. Auch ihr Mann steckte seine Gallagher zurück ins Leder des Scabbards. Johnny Miller zügelte sein Tier kurz vor dem Wagen und sagte aufgeregt: »Sie haben Cody, und sie kommen direkt auf uns zu!« »Wer?« fragte sein Vater. »Ich weiß es nicht. Drei Männer. Sie haben es eilig und führen zwei zusätzliche Pferde mit sich. Es sind die Pferde, mit denen Cody losgeritten ist. Über einem von ihnen liegt er.« »Ist er tot?« »Keine Ahnung. Das konnte ich nicht feststellen. Ich hatte gerade in einem Waldstück angehalten, um einen Stein aus einem Hufeisen zu pulen, als ich ihr Hufgetrappel hörte. Sowie ich Cody und die Pferde erkannte, habe ich mich davongemacht.« Sie konnten die von Johnny beschriebene Gruppe jetzt sehen. Im schnellen Schritt kam sie auf den Planwagen zu. »Wenn wir Glück haben, sind wir noch nicht entdeckt worden«, sagte der Farmer. »Immerhin dürften die Fremden, wer immer sie sein mögen, nicht mit uns rechnen.« Er zeigte auf den nächsten Baumgürtel. »Fahr den Wagen hinter die Bäume, Agnes.« Seine Frau löste die Bremse, trieb die Zugtiere an und lenkte das Gespann nach rechts, bis es hinter der Baumgruppe verschwunden war. Ben und Johnny Miller folgten dem Wagen und stiegen hinter den Bäumen von den Pferden. »Sorgt dafür, daß die Gäule ruhig sind«, sagte Ben Miller und schlich sich mit seiner Gallagher ins Unterholz, bis er einen freien Blick auf das übrige Gelände hatte, selbst aber gut getarnt war. Cora beugte sich aus dem Wagen und fragte, was los sei. Ihre Mutter erklärte es ihr und wies sie an, dafür zu sorgen, daß Ann ruhig war. Keine zehn Minuten, nachdem der Kastenwagen hinter den Bäumen verschwunden war, passierten die Fremden die Stelle. Ben Miller kannte sie nicht. Aber er kannte die Pferde und den jungen Burschen, der wie ein totes Stück Fracht über dem Rücken eines Braunen lag. Johnny hatte sich nicht getäuscht. Freund oder Feind? fragte sich der Farmer beim Anblick der drei fremden Reiter, konnte sich diese Frage aber beim besten Willen nicht beantworten. So wenig wie die anderen Fragen, die ihn beschäftigten: War Cody tot oder nur verwundet? Waren die drei Reiter für seinen Zustand verantwortlich, oder hatten sie ihn nur gefunden? Sie konnten zu Quantrill gehören oder genauso gut auf der Seite der Union stehen. Sie trugen keine Uniform. Man sah es ihnen nicht an. Jedenfalls schienen es keine Einwohner von Blue Springs zu sein. Die kannte Ben Miller alle. Und er war sich ziemlich sicher, die drei schmutzigen, unrasierten Fremden noch nie im Leben gesehen zu haben. Ben Miller war kurz versucht, sie anzusprechen. Immerhin war er bewaffnet und konnte sie auf Distanz halten. Möglich, daß sie freundlich gesinnt waren und wußten, wo es Hilfe für die von Quantrill bedrohte Stadt gab. Von Cody war jedenfalls keine Hilfe mehr zu erwarten. Aber der Farmer hielt den Mund. Vielleicht gaben seine Vorsicht und die Verantwortung für seine Familie den Ausschlag dafür. Vielleicht eine Art sechster Sinn. Oder auch nur das grausame Aussehen des Pockennarbigen auf dem Apfelschimmel. Nein, Ben Miller wollte kein Risiko eingehen, wollte seine Familie nicht in Gefahr bringen. Er ließ die kleine Gruppe vorbeireiten und wartete geschlagene zwanzig Minuten, bevor er das Signal zur Weiterfahrt gab. »Pa, was machen wir jetzt?« fragte Johnny, der den Fuchs an seine Seite lenkte. »Ich meine, was Cody betrifft. Er kann keine Hilfe mehr für Blue Springs holen.« »Nein«, stimmte ihm sein Vater zu und dachte über das Problem nach. * Die Erde erzitterte unter den vielen hundert Hufen, als Quantrills wilde Schar die Hügel heruntersprengte. Wie schon beim ersten Angriff auf Blue Springs stießen die Freischärler gellende Schlachtrufe aus und feuerten ihre Waffen ab, obwohl die Distanz zu den Barrikaden einen Treffer so gut wie unmöglich erscheinen ließ. Aber es machte ihnen Mut und sollte die Männer in der Stadt einschüchtern und vielleicht zu voreiligen Schüssen verleiten. Über den Häuptern der Bushwackers wehte Quantrills schwarze Flagge. Den Reitern voran rasten zwei vierspännige Frachtwagen - brennende Wagen. Die Verteidiger duckten sich in ihre Stellungen, brachten ihre Waffen in Anschlag und warteten ab, bis die Angreifer auf sichere Schußweite heran waren. Sie waren es jetzt schon gewohnt, und Byron Cordwainers Ermahnung, erst auf seinen Befehl hin zu feuern, war überflüssig. Jacob lag ruhig da, den Maynard-Karabiner im Anschlag und den Blick unverwandt auf die heranstürmenden Guerillas gerichtet. Er wunderte sich über sich selbst, wie leicht es ihm auf einmal fiel, Soldat zu sein und auf Menschen zu schießen -wenn er es unbedingt mußte. In seiner Nähe hatten sich Cordwainer und Hickok verschanzt. Letzterer hatte sich ebenfalls mit einem Gewehr bewaffnet, einem Robinson-Nachbau des Sharps-Karabiners, der im Scabbard des erbeuteten Rebellenpferdes gesteckt hatte. Cordwainer begnügte sich mit seinem Army Colt, der in seiner Rechten lag. Der schwere Kavalleriesäbel, der an seiner Seite baumelte, war für das bevorstehende Feuergefecht nutzlos; die Offizierswaffe dokumentierte nur Cordwainers Führungsanspruch über die Männer von Blue Springs. Als der Major seine Leute zum wiederholten Mal aufforderte, mit dem Schießen zu warten, bis die Reiter nah genug für einen sicheren Treffer waren, rief Hickok dazwischen: »Die Wagen! Sie dürfen uns nicht erreichen! Schießt auf die Zugpferde!« Die anderen sahen den Scout fragend an. »Schießpulver und Munition«, erklärte Hickok. »Aus dem Depot von Liberty.« Der Major wiederholte Hickoks Befehl, brüllte ihn den Männern zu, die ihn zu ihren Kameraden weitertrugen. Die Fahrer auf den Böcken trieben die Zugpferde mit lauten Schreien und Peitschenhieben an, ließen die Gespanne mit immer größerer Geschwindigkeit auf die Stadt zurasen. Die Entfernung zu den Wagen betrug nur noch hundert Yards, als Hickok den Feuerbefehl gab. Die Kugeln ließen rings um die Wagen den Boden aufspritzen. Die Gespanne fuhren so schnell, daß viele Schüsse zu weit hinten angesetzt waren. Jacob hatte auf eins der vorderen Zugtiere des Gespanns gezielt, das eine halbe Wagenlänge vor dem anderen fuhr. Sein ihm fast unheimliches Talent für Schußwaffen bestätigte sich auch diesmal. Das Pferd wieherte laut und wäre gestürzt, wäre es nicht angeschirrt gewesen. Aber die drei anderen Pferde rissen es weiter mit sich. Als das hinter dem getroffenen Pferd laufende Tier ebenfalls von einer Kugel erwischt wurde, brach das Gespann nach rechts aus und bot den Verteidigern seine Breitseite dar. Hastig lud Hickok, der für den zweiten Treffer verantwortlich war, den Robinson-Karabiner nach, zielte genau auf eins der Pulverfässer und zog ruhig den Abzug durch. Der Wagen explodierte wie zuvor der im Guerilla-Lager. Der Flammenhauch war so gewaltig, das er sogar die Männer hinter den Barrikaden streifte und ihnen für Sekunden die Luft zum Atmen raubte. Auch einzelne, zum Teil brennende Trümmerstücke regneten auf die Stellungen der Verteidiger herab. Der vom Bock geschleuderte Fahrer wurde regelrecht in der Luft zerfetzt. Über den Resten des Wagens stieg ein großer Pilz aus schwarzem Rauch in den Himmel. Die Männer hinter den Barrikaden konnten sich nicht lange über diesen Erfolg freuen. Obwohl zwei seiner Zugtiere getroffen wurden, hatte es der Fahrer des zweiten Wagens geschafft, sein Gespann bis kurz vor die Stellung der Verteidiger zu lenken. Jetzt stieß er sich vom Bock ab, landete auf dem Boden, rappelte sich auf und lief davon, um Deckung vor der bevorstehenden Explosion zu finden. Cordwainer legte seinen Colt an und schoß die Trommel leer. Seine Kugeln trafen beide bislang unverletzten Zugpferde. Das brennende Gefährt geriet ins Schlingen und stürzte schließlich um. Aber es war zu spät. Sein Ladung schlitterte mitten in die Barrikaden und flog dort in die Luft. Der Lärm der explodierenden Pulverfässer und Munitionskisten übertönte die Detonationen vom Westende der Stadt, wo es ebenfalls ein Wagen geschafft hatte, die Barrikaden zu erreichen. Um Jacob, Hickok und Cordwainer herum brach die Hölle aus. Verwundete und verstümmelte Menschen schrien, rannten ziellos umher. Jacob spürte einen sengenden Schmerz an seiner linken Wange. Eine der Kugeln aus den unter lautem Geknatter explodierenden Munitionskisten hatte einen großen Fetzen Haut aus seinem Gesicht gerissen. Einen Zoll weiter nach rechts, und die Kugel hätte mitten in sein Gesicht getroffen. Als er einen der Fuhrkutscher erblickte, der die Reisenden von der PRIDE OF MISSOURI nach Blue Springs gebracht hatte, vergaß er seine Verletzung. Der Mann lief schreiend die Main Street hinab, lichterloh brennend, wie eine lebendige Fackel. Jacob ließ den Karabiner fallen, sprang auf, rannte ihm nach und rief immer wieder, der Mann solle sich hinwerfen. Aber der in Flammen stehende Fuhrmann hörte nicht auf ihn. Ihn regierten nur noch die Panik und der Schmerz. Der Deutsche holte das Letzte aus sich heraus und erreichte den brennenden Mann, dessen Kräfte schwanden und der ins Torkeln geriet. Jacob warf sich auf ihn und riß ihn mit sich zu Boden, wo er den schreienden Kutscher hin und her wälzte, um die Flammen zu ersticken. Als die letzte Flamme erloschen war, lag der grausam entstellte Mann reglos unter Jacob. So sehr dich der Deutsche auch bemühte, er konnte bei ihm kein Lebenszeichen mehr feststellen. Beim Anblick der starken Verbrennungen durchzuckte Jacob der Gedanke, daß es so für den Mann vielleicht sogar besser war. Kaum war der Explosionslärm verklungen, den die tödliche Fracht des brennenden Wagens ausgelöst hatte, da hörte Jacob neue Detonationen von den Barrikaden: Schüsse. Vermischt mit Schreien und Hufgetrappel. Er sah auf. Quantrills Männer galoppierten durch die Lücke, die in die Barrikaden gerissen worden war, und schossen auf alles, was sich bewegte. Einer trieb sein Tier direkt auf Jacob zu. »Was. ist. das?« fragte Virginia gequält, als draußen an den Rändern der Stadt die Wagen explodierten. »Kümmern Sie sich nicht darum«, riet ihr der Arzt, als er das desinfizierte Skalpell an ihren Bauch führte. »Denken Sie nur an das Kind!« Konzentriert setzte Hatfield das Messer an, um die natürliche Öffnung zu erweitern. Das Kind lag quer, was bei hundert Geburten einmal vorkam. Obwohl es nicht das erstemal war, daß er ein Kind auf diese Weise zur Welt brachte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Es war gefährlich, und doch mußte er sich beeilen. Die Wehen brachten die geschwächte Frau fast um. Gerade wollte er zum Schnitt ansetzen, als die Tür aufgestoßen wurde. Aus den Augenwinkeln nahm er einen Mann mit einem Revolver wahr. Es war Martin, der in der linken Hand einen 44er De-Brame-Revolver hielt, den er sich von Avery Cordwainer geholt hatte, um bei der Verteidigung des Hauses zu helfen, falls es nötig sein sollte. Der Hausherr, seine Frau und sein schwarzer Butler kamen hinter dem Deutschen die Treppe herauf, um hier im Obergeschoß in Stellung zu gehen. Unten war alles verbarrikadiert. Bis auf den Butler und Beth hatten alle Bediensteten das Haus verlassen; die Männer kämpften draußen an den Barrikaden, und die Frauen waren daheim bei ihren Familien, um zu beten. »Was wollen Sie?« herrschte Hatfield den Störenfried an. »Ihnen sagen, daß Sie sich beeilen sollen. Es sieht ganz so aus, als ließen sich Quantrills Männer nicht mehr lange zurückhalten. Ich glaube, sie haben die äußeren Barrikaden bereits durchbrochen.« »Beeilen?« fragte der Arzt ungläubig. »Was, glauben Sie, tun wir hier? Einen Kuchen backen?« »Ich. ich wollte nicht stören«, stammelte Martin verlegen. »Das tun Sie aber«, erwiderte der Arzt. »Sehen Sie zu, daß Sie uns Quantrills Banditen vom Leib halten! Wir kümmern uns um Virginia!« »Ja«, sagte Martin nur, ging hinaus und schloß die Tür, durch die gerade die Cordwainers neugierige Blicke werfen wollten. Hatfield wischte mit einem Taschentuch den Schweiß aus seinem Gesicht. Dann beugte er sich wieder über die Schwangere und begann mit der Operation. * Für einen Augenblick war Jacob wie gelähmt. Er stand neben der von Brandwunden entstellten Leiche des Fuhrkutschers auf der Main Street und starrte den Reiter an, der auf ihn zujagte und ihn offenbar über den Haufen reiten wollte. Der Freischärler war jung, ein paar Jahre jünger noch als der Auswanderer. Noch keiner von ihnen hatte richtig gelebt. Und doch sollte einer das Leben des anderen auslöschen, weil irgendwelche Politiker entschieden hatten, daß ihr Konflikt nur durch einen Krieg zu bereinigen war. Als Jacob in dem jugendlich glatten Gesicht des Guerillas die grimmige Entschlossenheit las, sein Leben auszulöschen, fiel die Lähmung von ihm ab. Er zerrte den 44er aus dem Holster und wollte auf den anderen anlegen. Aber der war bereits zu nah. Jacob konnte sich nur noch mit einem Sprung hinter die nächste Hausecke vor den Hufen des Rappen in Sicherheit bringen. Jacob erhob sich hinter dem Haus auf die Knie und spähte um die Ecke, den Revolver noch immer in der Rechten. Er sah, daß der Rebell sein Pferd gezügelt und herumgerissen hatte. Er hielt jetzt einen Revolver in der Hand und gab einen Schuß auf das Versteck des Deutschen ab. Zwei Handbreit über Jacobs Kopf fuhr das Geschoß splitternd in das Holz der Hauswand. Jacob erwiderte das Feuer und jagte zwei Schüsse aus dem Dean-Harding-Revolver. Sie trafen den Reiter in die Brust und rissen ihn vom Pferd. Er schlug auf dem schlammigen Boden der Main Street auf und rührte sich nicht mehr. Der Deutsche wirbelte herum, als er dicht hinter sich Schüsse hörte. Keine zehn Yards von ihm entfernt sackte ein Mann zu Boden, der noch den Karabiner in den Händen hielt, mit dem er auf den Auswanderer gezielt hatte. Hinter ihm stand ein weiterer Mann, groß, mit einer roten Schärpe um den Leib, einen rauchenden Colt in der Rechten. »Sie haben Glück gehabt, daß ich den Kerl gesehen habe«, sagte James Butler Hickok. »Leider habe ich hinten keine Augen«, meinte Jacob. »Das ist ein Manko in diesem Land.« Hickok warf einen kurzen Blick zu den Barrikaden am Ortseingang. Das Abwehrfeuer der Verteidiger war fast erstorben. Wer nicht ein Opfer der Explosion oder der angreifenden Bushwackers geworden war, hatte die Beine in die Hand genommen und sich in den inneren Verteidigungskreis zurückgezogen. Byron Cordwainer, der zu den Überlebenden gehörte, hatte Vorsorge getroffen und Fuhrwerke bereitstellen lassen, die jetzt auf die Straßen gezogen wurden, um sie gegen die angreifenden Reiter zu versperren. »Machen wir, daß wir hier wegkommen«, schlug Hickok vor. »Quantrill gönnt seinen Männern und uns keine Pause.« Tatsächlich formierten sich in diesem Augenblick die Reiter an den brennenden Barrikaden zu einem neuen Angriff. Jacob und der Kundschafter rannten auf den inneren Verteidigungskreis zu, wo sie Cordwainers blaue Uniform hinter einem Prärieschoner schimmern sahen. Der Major hatte seinen Hut verloren, und sein schmales Gesicht war vom Pulver geschwärzt. »Wie ist die Lage, Major?« fragte Hickok, als er und Jacob hinter dem Conestoga-Wagen in Deckung gingen. »Es sieht schlecht aus«, antwortete Cordwainer. »Die verfluchten Rebellen sind auch im Westen mit dem Wagentrick durchgebrochen. Mein Bruder Ellery hat mit seinen Männern ebenfalls den inneren Verteidigungskreis bezogen. Vielleicht schaffen wir es ja doch!« Mit dem letzten Satz schien er sich selbst Mut zusprechen zu wollen. Auf der Main Street galoppierte die Schwarze Brigade heran. Die Schmerzen überwältigten Virginia Cordwainer. Der Kopf der jungen Frau rollte zur Seite, und ihre Augen schlossen sich. »Ma'am!«. schrie Beth auf und beugte sich angsterfüllt über ihre Herrin. Als die nicht reagierte, sah die Schwarze den Arzt an: »Ist sie. tot?« »Keine Ahnung«, keuchte Hatfield, damit beschäftigt, das Kind aus dem Leib seiner vielleicht toten Mutter zu holen. Irene unterstützte ihn dabei. Beider Hände waren rot vor Blut. Dann hielt der Arzt es plötzlich in der Hand: einen kleinen blutigen Fleischklumpen, durch die Nabelschnur noch mit dem Mutterleib verbunden. »Lebt es?« fragte Irene flüsternd, als wagte sie nicht, die Frage laut zu stellen - vielleicht aus Angst vor der Antwort. Hatfield drehte das Kind herum und nahm es hoch. Plötzlich hob und senkte sich die kleine Brust, und das Neugeborene strampelte heftig mit Armen und Beinen. Es begann zu schreien. Der Arzt unterband die Nabelschnur und trennte sie durch. Das selbständige Leben des Neugeborenen hatte begonnen. Hatfield putzte seine Hände an einem Handtuch ab und kümmerte sich um Virginia. Die Männer hinter der inneren Verteidigungsstellung schossen aus allen Rohren auf die unter der schwarzen Flagge heranjagenden Reiter, deren gellendes Schlachtgeschrei die Schüsse fast übertönte. Einige der Reiter stürzten aus den Sätteln, aber auch viele der Verteidiger sackten getroffen zu Boden. Und dann waren die Angreifer bei den Wagen. Einige versuchten ihre Pferde über die Deichseln springen zu lassen. Andere stellten sich auf die Sättel und sprangen selbst über die Wagen, wo es zu einem wilden Handgemenge kam. Byron Cordwainer hatte seinen Army Colt gerade leergeschossen, als ein Rebell seinen Grauschimmel zum Sprung über die Verteidiger zwang. Hinter den wenigen Männern, die hier noch die Stellung hielten, riß der Guerilla sein Pferd herum, zog seinen Revolver und trieb den Grauschimmel mitten unter die Feinde. Cordwainer warf ihm seinen Colt entgegen, riß dann den Säbel heraus und stürmte dem Reiter mit blanker Klinge entgegen. Die Klinge bohrte sich tief in den Pferdehals und brachte das stark blutende Tier zu Fall. Der Major verwickelte den Rebell in ein Handgemenge, aber letzterem gelang es, seinen Revolver auf den Uniformierten zu richten. Jacob sah das und schwenkte seinen 44er auf den Südstaatler. Er hatte seine Schüsse nicht gezählt und hoffte, daß wenigstens in einer Kammer noch eine Patrone steckte, als er den Abzug durchzog. Der Schuß krachte, und der Freischärler brach über seinem Gegner zusammen. Cordwainer schüttelte ihn von sich ab, nahm den Revolver des Getroffenen an sich und warf dem Deutschen einen knappen Dankesruf zu. Dann sah der Major in die Runde, um festzustellen, was noch zu retten war. Nicht viel. Die meisten der Verteidiger waren gefallen oder geflohen, um sich in ihren Häusern zu verschanzen. Nur noch eine Handvoll Männer scharte sich um Cordwainer, Hickok und Jacob, während immer mehr von Quantrills Reitern durchbrachen. »Es hat keinen Sinn mehr!« rief Jacob, als rechts und links neben ihm zwei Männer starben; einer gehörte zu den Bürgern der Stadt, der andere war ein Mitreisender von der PRIDE OF MISSOURI. Cordwainer nickte traurig und erwiderte: »Wir ziehen uns zum Haus meines Vaters zurück!« Ohne auf die anderen zu warten, rannte der Major davon. Hickok und die wenigen Überlebenden von Cordwainers Männern schlossen sich ihm an. Als Jacob ihnen folgen wollte, kletterte eine Gestalt über den Conestoga-Wagen, hinter dem der Deutsche gehockt hatte, und warf sich auf ihn. Jacob sah in das bärtige, haßverzerrte Gesicht eines Südstaatlers. »Habe ich dich endlich, Dutch!« knurrte Bloody Bill Anderson und fletschte seine Zähne wie ein hungriges Raubtier. * Virginia schlug die Augen auf, als Hatfield die Riechsalzflasche unter ihrer Nase entlangführte. Verwirrt sah sie um sich und riß ihre großen grünen Augen noch weiter auf, als sie das Kindergeschrei vernahm. »Ist das.« Vor Aufregung brachte sie den Satz nicht zu Ende. »Ihr Sohn«, sagte Hatfield und nahm Irene das frischgewaschene und in ein dickes, flauschiges Tuch gehüllte Neugeborene aus den Armen, um es der Mutter hinzuhalten. »Ein Sohn«, flüsterte Virginia ungläubig und sah das Kind an wie eins der sieben Weltwunder. »Er ist so winzig!« »Er ist auch ein paar Wochen zu früh gekommen«, erwiderte der Arzt. »Aber dafür und gemessen an der Tatsache, wie schwierig es für ihn war, ans Tageslicht zu kommen, ist er ziemlich munter. Dem ersten Eindruck zufolge ist er kerngesund.« Zögernd nahm die frischgebackene Mutter das Kind an sich, um es dann um so fester - wenn auch mit der gebotenen Vorsicht - an sich zu drücken. Irene und Beth waren erleichtert und freuten sich. Beth beugte sich über das Bett. »Wie soll er denn heißen, Ma'am?« Ohne zu überlegen, antwortete Virginia: »Custis.« Auf einmal verdunkelte sich ihr eben noch freudiges Gesicht. Ihr war bewußt geworden, daß sie ihr Kind nicht nach seinem wahren Vater benennen konnte, wenn sie die Frau des Mannes war, der für den Tod des Vaters verantwortlich war. Byron Cordwainer würde dafür kein Verständnis haben. Vielleicht würde es auch für Virginia selbst zu schmerzvoll sein, ständig an ihren toten Geliebten erinnert zu werden. Aber - wurde sie das nicht sowieso, schon allein durch die Existenz des Kindes? Beth schlug eine Hand vor ihren Mund, als ihr bewußt wurde, was sie mit ihrer Frage angerichtet hatte. Hatfield wusch seine Hände in einer Schüssel mit bereits blutigem Wasser, trocknete sie an einem Handtuch und krempelte die Hemdsärmel nach unten. »Ruhen Sie sich aus, Virginia. Schlafen Sie viel. Sie haben es nötig.« »Sie wollen schon gehen, Doktor?« fragte Irene. »Ich muß. Für Virginia habe ich alles getan, was in meiner Macht stand. Da draußen werde ich jetzt dringender gebraucht.« Er zeigte durch das Fenster auf die Stadt, die von Detonationen und Schreien widerhallte. Hinten im Westen sah man einen großen Feuerschein; ein Gebäude mußte in Flammen stehen. Der Arzt streifte seine Jacke über, griff nach seiner Tasche und öffnete die Tür, als schwere Schritte die Treppe herauf stürmten. Ein paar Männer erschienen auf dem Gang, von denen einer - in blauer Uniform - ins Zimmer drängte. »Was ist los?« fragte Byron Cordwainer. »Wir. ich habe einen Sohn«, sagte Virginia und drückte das Kind so fest an sich, als befürchtete sie, ihr Mann könne es ihr wegnehmen. Der Major würdigte seinen Sohn - was das Kind zumindest nach dem Gesetz war - keines Blickes, sah statt dessen den Arzt an. »Wo wollen Sie hin, Doc?« »Nach draußen, den Verletzten helfen.« Hatfield wollte durch die Tür auf den Gang treten, aber Cordwainer versperrte ihm den Weg. »Vergessen Sie das, Doc. Draußen ist alles verloren. Wir brauchen Sie hier im Haus. Wir müssen hier die Stellung halten, bis die Truppen aus Kansas City kommen.« »Aber Quantrill hat doch den Kurier abgefangen«, meinte Irene verwirrt. »Hat Ihnen das der Doc nicht erzählt?« fragte Cordwainer verwundert und zeigte auf den Mann mit der roten Schärpe, der hinter ihm stand. »Der Freund dieses Mannes, ein gewisser Cody, ist unterwegs zu General Ewing, um Hilfe zu holen.« Irene antwortete nicht. Ihre Gedanken waren schon woanders. Ängstlich sah sie Cordwainer an und fragte: »Wo ist Jacob?« »Mr. Adler? Er hat sich tapfer geschlagen und bis zuletzt mit uns die Stellung gehalten. Aber dann haben ihn die Rebellen erwischt.« Bloody Bill Andersen hatte Jacob zu Boden geworfen und kauerte auf ihm, ein Bowiemesser in der Rechten. Jacob fühlte sich an den Kampf erinnert, den er und Quantrills Unterführer damals im Guerillalager ausgetragen hatten, als die Freischärler versucht hatten, Präsident Lincoln in ihre Hände zu bringen. Damals hatte der Deutsche den Kampf für sich entscheiden können. Diesmal sah es nicht so aus. Beim Sturz hatte Jacob seinen Revolver verloren. Mit beiden Händen blockte er Andersons Hand mit dem Messer ab. Der Deutsche war groß und kräftig, aber der Südstaatler stand ihm darin nicht nach. Und Bloody Bill hatte den fanatischen Haß auf seiner Seite, den er gegen den »Dutch« entwickelt hatte. Die scharfe Klinge kam Jacobs Gesicht immer näher. Jacob dachte an seinen nahen Tod und daran, daß er seine Familie nie wiedersehen würde. Seinen Vater, den Zimmermannsmeister Heinrich Adler, seine Schwester Marthe, seine Brüder Fritz und Lukas. Sie wollte er in Amerika wiederfinden; deshalb hatte er die weite Reise unternommen. Der Gedanke an seine Familie gab Jacob Kraft, eine Kraft, die Andersons blindem Haß überlegen war. Der junge Deutsche hatte alle Muskeln angespannt und stieß jetzt den Angreifer mit einer gewaltigen Anstrengung von sich. Quantrills Unterführer schrie vor Überraschung auf und landete vier Yards entfernt im Schmutz der Straße. »Du dreckiger Hund«, fluchte der Bärtige und stand auf, das große zweischneidige Messer noch immer in der Rechten. »Noch mal wird dir das nicht gelingen.« Langsam kam er auf Jacob zu. Der rang nach Atem, wälzte sich auf dem Boden herum und packte den Revolver, den er bei Andersons Angriff verloren hatte. Er riß die Waffe hoch, richtete die Mündung auf Bloody Bill und zog den Hahn zurück. »Noch einen Schritt, und ich drücke ab!« Anderson hielt mitten in der Bewegung inne und sah seinen Gegner lauernd an. Jacob schwitzte. Er wußte nicht, ob noch eine Patrone in der Kammer steckte. Hatte er die letzte verschossen, als er Byron Cordwainer das Leben rettete? Aber eins war ihm klar: Er durfte Anderson seine Zweifel nicht merken lassen. Aus seinen Augenwinkeln bemerkte Jacob einen Schatten, der auf ihn zutrat. Dann hörte er das metallische Klacken eines gespannten Revolverhahns und eine irgendwoher vertraute Stimme, die sagte: »Wen haben wir denn da? Den verfluchten Dutchman, der uns immer wieder in die Suppe spuckt!« Der Deutsche warf einen schnellen Blick zur Seite und erspähte einen mittelgroßen jungen Burschen, der ihn aus stechenden, eigentümlich zwinkernden Augen ansah. Jesse James stand keine zehn Yards von ihm entfernt und hatte einen Revolver auf Jacob gerichtet. »Laß die Waffe fallen, Dutch. Das ist nicht fair dem guten Bill gegenüber. Er hat schließlich nur ein Messer in der Hand, kein Schießeisen.« »Genau«, bestätigte Bloody Bill mit einem breiten Grinsen. »Wenn ich meine Waffe fallen lasse, knallen Sie mich doch einfach ab«, sagte Jacob zu dem jungen Guerilla. »Vielleicht«, meinte dieser. »Ich hätte jedenfalls nicht wenig Lust dazu.« Jacob überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Mit einem vermutlich leergeschossenen Revolver hatte er kaum Chancen gegen den jungen Jesse James. Eine Gruppe ihn umringender Reiter nahm ihm die Entscheidung ab. Gegen so viele Südstaatler hatte er auch nicht den Hauch einer Chance. Entmutigt ließ er den 44er sinken. Anderson stieß einen Schrei aus und wollte sich auf den Deutschen stürzen, als ein grauuniformierter Reiter sein Pferd zwischen die beiden trieb. »Nicht so hitzig, Bill«, wurde der Bärtige von William Clarke Quantrill ermahnt. »Sonst bringst du den Kerl noch um!« »Und warum sollte ich das nicht tun?« fragte ein verärgerter Anderson. »Weil tote Gefangene so schwer dazu zu bewegen sind, den Mund aufzumachen. Und ich möchte dem Dutchman gern noch ein paar Fragen stellen.« Er blickte seine Männer an. »Fesselt in an den Wagen und laßt eine Wache hier!« Dann sprengte Quantrill mit dem Hauptteil seiner Streitmacht die Main Street hinauf, um sein blutiges Werk zu vollenden. Das große Haus der Familie Cordwainer war jetzt eine kleine Festung. Die Frauen und die beiden Kinder drängten sich in Virginias Zimmer zusammen und warteten ängstlich auf die kommenden Ereignisse. Die Männer hatten die Fenster im Obergeschoß besetzt und schon mehrmals die Angriffe der Südstaatler abgeschlagen. Doch ihre Lage wurde immer verzweifelter. Wurde vor einer halben Stunde noch an verschiedenen Stellen in der Stadt gekämpft, so schien es nun, als sei das Cordwainer-Haus das letzte Widerstandsnest. Die Schüsse in der Ferne waren verstummt, aber die auf das große weiße Haus nahmen zu. Immer mehr Guerillas verschanzten sich in den umliegenden Gebäuden und nahmen es unter Feuer. Mit Byron Cordwainer und Hickok waren zwei weitere Männer ins Haus gekommen, Angehörige von Cordwainers Jayhawkers-Truppe: der wuchtige Hufschmied Brock Haley und der Farmarbeiter Doug Smithers. Smithers war gestorben, als ihm eine Kugel die Lunge zerfetzte. Haley war von einem Querschläger das halbe Ohr weggerissen worden. Auch Clyde, der alte Butler, hatte eine Verwundung davongetragen, als ihm eine Kugel in die Brust gefahren war. Hatfield kümmerte sich um ihn und versuchte die Kugel herauszuholen. Die letzten kampffähigen Männer im Haus waren Byron und Avery Cordwainer, Hickok, Haley und Martin. Sie hielten sich, so gut es ging, in Deckung, mußten sie aber hin und wieder verlassen, um die Freischärler auf Distanz zu halten. »Was ist das?« fragte Martin, der neben Byron Cordwainer unter einem großen Fenster hockte, auf einmal. »Da ruft doch jemand!« Die Verteidiger stellten das Feuer ein und bemerkten jetzt erst, daß auch die Guerillas nicht mehr auf sie schossen. Statt dessen rief eine Stimme nach ihnen: »He, ihr da im Haus! Wir wollen mit euch reden!« »Dann tut es doch!« schrie Byron Cordwainer zurück. »Versprecht ihr, nicht auf Captain Quantrill zu schießen?« Der Major sah fragend in die Runde. Hickok nickte ihm zu. »Wir sollten darauf eingehen. Verhandeln heißt Zeit schinden. Vielleicht gerade die Zeit, die General Ewing braucht, um uns zu helfen.« »Einverstanden«, rief der Major. »Wir reden mit Quantrill und krümmen ihm kein Haar.« Kurz darauf zeigten sich zwei Reiter unten vor dem Haus. Der eine trug eine graue Uniform und saß auf einem Braunen: Quantrill. Neben ihm erschien ein Guerilla mit der schwarzen Flagge, dem Wahrzeichen von Quantrills Einheit. »Eine weiße Fahne war ihm wohl nicht gut genug«, knurrte Byron Cordwainer. »Wozu auch, wenn er eine eigene Flagge hat«, meinte Hickok gleichgültig. Quantrill sah zu den oberen Fenstern herauf und fragte: »Führt bei euch ein Byron Cordwainer das Kommando?« »Ja«, antwortete der Major. »Warum zeigt er sich dann nicht? Hat der Anführer der berüchtigten Jayhawkers etwa Angst?« Der Mann in der blauen Uniform wollte aufstehen, da rief Haley leise: »Nicht, Major. Das ist bestimmt eine Falle. Die verfluchten Rebellen veranstalten diesen Zirkus nur, um Sie auszuschalten.« »Wenn es eine Falle ist, Brock, wird es auch Quantrill erwischen. Nimm ihn aufs Korn und verpaß ihm ein drittes Auge, wenn sich irgend etwas Verdächtiges tut.« Grinsend brachte der Hufschmied mit dem am rechten Ohr blutigen Kopfverband seinen Karabiner in Anschlag und legte den Lauf aufs Fensterbrett. »Das wird mir ein Vergnügen sein, Major.« »Aber nicht voreilig schießen«, ermahnte ihn Hickok. »Wir haben nichts davon, wenn die Schwarze Brigade wie ein hungriger Heuschreckenschwarm über das Haus herfällt.« Byron Cordwainer lehnte sein Gewehr gegen die Wand und erhob sich, bis er in voller Größe vor dem offenen Fenster stand. »Hier bin ich, Quantrill.« »Sie sind Cordwainer?« »Ja, ich bin Major Cordwainer.« »Es ist mir eine Ehre, Major«, sagte der Guerillaführer mit einem hämischen Unterton. »Sind Sie jetzt endlich bereit, meine Kapitulationsbedingungen entgegenzunehmen?« »Was für Kapitulationsbedingungen?« »Sie ergeben sich auf der Stelle und bleiben dafür am Leben.« »Das sind keine Kapitulationsbedingungen, das ist eine Erpressung.« Quantrill lachte laut und stützte sich in überlegener Zufriedenheit auf sein Sattelhorn. »Sie haben wohl kaum eine Wahl, Major.« »Doch, die habe ich. Meine Männer und ich können weiterkämpfen!« »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie Frauen im Haus«, meinte Quantrill. »Wollen Sie die nicht schonen? Wenn Sie sich jetzt ergeben, werde ich die Unversehrtheit der Damen garantieren.« »Und wenn nicht?« fragte Byron Cordwainer. »Werden sich Ihre ehrlosen Banditen dann an den Frauen vergreifen?« »Meine Männer sind keine Banditen, sondern Soldaten!« »Soldaten, die über wehrlose Frauen herfallen?« »Sie vergessen die Strapazen, die hinter meinen Leuten liegen und an denen Sie nicht so ganz unschuldig sind, Major. Da ist es wohl verständlich, wenn meine Leute auch ein bißchen Spaß haben wollen.« Hickok stand auf und stellte sich neben Cordwainer ans Fenster. »Ihre Worte wären eine Verhandlungsbasis, wenn man Ihnen trauen könnte, Quantrill. Aber Sie sind genauso ehrlos wie Ihre Männer.« »Wen haben wir denn da?« meinte der Mann in der grauen Südstaatenuniform mit hochgezogenen Brauen. »Den Verräter!« »Ich bin kein Verräter, sondern ein Kundschafter. Ich habe schon immer für die Sache des Nordens gekämpft.« »Wie es aussieht, werdet ihr alle jetzt für die Sache des Nordens sterben«, erwiderte Quantrill, der nicht aus der Ruhe zu bringen war. Die Männer oben im Haus spürten, daß er noch einen Trumpf auszuspielen hatte - mindestens einen. Die selbstgefällige Überlegenheit, mit der Quantrill auftrat, konnte nicht allein von der Macht seiner Männer und Waffen stammen. Da war noch etwas, eine unliebsame Überraschung, die der Guerillaführer für die letzten Verteidiger von Blue Springs bereithielt. Das lag so schwer und deutlich wahrnehmbar in der Luft wie die warme Feuchtigkeit des Sommerregens, der viele Tage lang auf das Land niedergegangen war. »Dabei nehmen wir aber noch eine Menge von euch mit«, entgegnete Hickok. »Vielleicht euch alle!« »Woher dieser Übermut?« wollte Quantrill wissen. »Etwa, weil ihr auf das Eintreffen von Hilfe wartet?« Hickok kniff skeptisch die Augen zusammen, so daß er noch mehr wie ein Raubvogel aussah. Und Quantrill war die Beute, auf die er hinabblickte, die er fixierte, um sich im nächsten Augenblick auf sie zu stürzen. Wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. »Was für Hilfe?« stellte der Scout die Gegenfrage. »Truppen aus Kansas City beispielsweise«, antwortete Quantrill mit gespielter Gleichgültigkeit. Aber man merkte ihm an, daß er sich insgeheim diebisch über etwas freute. »Wie kommen Sie darauf?« fragte Byron Cordwainer. »Sie haben unseren Kurier doch erwischt - und ermordet!« »Welchen Kurier meinen Sie?« fragte Quantrill mit Unschuldsmiene zurück. »Den Burschen, der den Schecken geritten hat?« Er wandte sich nach hinten. »Oder diesen hier?« Aus einer schmalen Gasse trat ein Mann mit grausam wirkenden Gesicht, der einen Braunen am Zügel führte. Über dem Pferd lag der Körper eines Mannes, der sich nicht bewegte. Die Männer oben im Haus konnten nicht sagen, ob er tot war. Hickok erkannte ihn sofort. Jetzt wußte er, wie Quantrills geheimer Trumpf aussah. Deshalb hatte sich der Guerillaführer die ganze Zeit über so diebisch gefreut. Er hatte mit seinen Gegnern gespielt wie eine Katze mit der in die Enge getriebenen Maus, der sie die Illusion ließ, noch eine Chance zu haben, bloß um sich an ihren aussichtslosen Rettungsversuchen zu weiden. Quantrill hatte gewußt, daß die Leute im Cordwainer-Haus auf Hilfe aus Kansas City warteten. Und er hatte auch gewußt, daß diese Hilfe niemals eintreffen würde, weil er den Kurier abgefangen hatte. Nur abgefangen? Oder auch getötet wie Gus Peterson, den ersten Kurier? »Cody!« stieß Hickok hervor und dachte an seinen jungen Freund und all die Pläne, die er gehabt hatte. Byron Cordwainer sah Hickok erschrocken an. »Das da unten ist Ihr Freund, der nach Kansas City.« »Ja«, unterbrach ihn der Kundschafter. »Kein Zweifel.« Er hob seine Stimme und fragte: »Habt ihr ihn auch getötet?« Quantrill sah den Mann mit den grausamen Gesichtszügen fragend an. Jasper schüttelte den Kopf. »Er lebt noch«, antwortete Quantrill. »Aber nicht mehr lange, wenn er nicht schnell ärztliche Hilfe erhält. Der Doc ist doch bei euch, oder?« »Das ist er«, bestätigte Hickok. »Schätze, eine Menge Ihrer Leute haben seine Hilfe ebenfalls nötig. Auf der Basis müßte sich verhandeln lassen.« Quantrill schüttelte entschieden den Kopf. »Ihr habt uns nicht genug zu bieten, um zu verhandeln.« »Wir haben den Arzt«, beharrte Hickok. »Und wir haben die hier.« Wieder gab der Guerilla-Captain den hinter ihm versteckten Männern ein Zeichen, und sie führten zwei gefesselte Gefangene auf den freien Platz vor dem Haus. Beide waren übel zugerichtet und bluteten aus mehreren Wunden, Einer der Männer war jung, großgewachsen und schlank, der andere alt, klein und grauhaarig. »Ellery und Lawrence«, flüsterte Byron Cordwainer. »Wer ist das?« erkundigte sich Hickok. »Mein Bruder Ellery und mein Schwiegervater Armstrong Lawrence.« Quantrill holte eine goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche, klappte gemächlich den Deckel auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt, bevor er wieder zu Hickok und dem Major hochsah. »Ihr habt von jetzt an noch genau fünf Minuten, um das Haus zu räumen. Wenn das nicht geschieht, lasse ich einen der Männer hier töten. Vielleicht den Bankier, dessen Tresor jetzt leer ist. Vielleicht Ihren Bruder, Major. Vielleicht aber auch den Burschen hier, in dem eh nicht mehr viel Leben steckt.« Quantrill sah kurz auf Codys reglosen Körper. »Die Reihenfolge werde ich mir noch überlegen. Danach wird alle fünf Minuten einer der Männer sterben, bis das Haus leer ist. Das ist kein Scherz!« Er klappte den Deckel der Uhr wieder zu, verstaute das goldene Kleinod in seiner Westentasche, wendete sein Pferd und ritt gemächlich in die schmale Gasse hinein, die direkt auf den Platz vor dem Cordwainer-Haus mündete. Der Flaggenreiter, Jasper mit dem Braunen und Cody sowie die Männer mit den Gefangenen folgten ihm. Hickok und Byron Cordwainer gingen wieder in Deckung. »Sie kennen Quantrill«, sagte der Major zu dem Kundschafter. »Was halten Sie von seinem Ultimatum?« Hickoks Gesicht war ernst. »Er hat bestimmt nicht geblufft. Quantrill ist so gnadenlos wie eine Klapperschlange. Und genauso gefährlich.« Averill Cordwainer sah seinen Sohn flehend an. »Byron, du mußt auf seine Bedingungen eingehen! Sonst tötet er Ellery!« »Was für Bedingungen?« fragte der Major. »Quantrill verlangt von uns die bedingungslose Kapitulation. Darauf lasse ich mich nicht ein, niemals! Es muß einen Weg geben, den verfluchten Buschräubern zu entkommen. Vielleicht, wenn es dunkel ist.« »Du willst Ellery sterben lassen?« fragte der alte Cordwainer entsetzt. »Und Ihren Schwiegervater?« fügte Hickok hinzu. »Und Cody, der sein Leben für uns alle aufs Spiel gesetzt hat?« Byron Cordwainers Züge verhärteten sich. »Es muß sein! Andernfalls sterben wir alle!« »Das ist nicht unbedingt gesagt«, widersprach Hickok. »Zwar ist Quantrill grundsätzlich nicht zu trauen. Aber er hat seine Launen im Schlechten wie im Guten. Wenn wir Glück haben, fühlt er sich an sein Versprechen gebunden und verschont uns - und die Frauen.« »Und wenn wir Pech haben?« fragte Byron Cordwainer skeptisch. »Dann sterben wir«, antwortete der Scout in einem Tonfall, als habe er nur verkündet, draußen zögen Wolken auf. »Nein!« stieß der Mann in der Offiziersuniform zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Niemals!« Er griff nach seinem Karabiner und wollte ihn auf dem Fensterbrett in Anschlag bringen. Hickok riß ihn zurück. »Was haben Sie vor, Mann?« In Byron Cordwainers tiefliegenden Augen flackerte wilde Entschlossenheit auf, die an Wahnsinn grenzte. »Quantrill die einzige Antwort geben, die ihm gebührt!« »Das werden Sie nicht tun!« sagte der Kundschafter. »Doch, das werde ich!« Blitzschnell riß der Major den Karabiner hoch und richtete ihn auf Hickok. »Und Sie werden mich nicht daran hindern!« Ein Schuß krachte. Die Detonation hallte laut im Zimmer wider. Byron Cordwainer schrie auf und sah erschrocken auf seine blutende Rechte. Hickok war mit einem Sprung bei ihm, riß ihm die Waffe aus der Hand und sah zu Martin hinüber, der seinen rauchenden Revolver in der Linken hielt und ihn auf den rechten Unterarm gestützt hatte. »Danke, Freund. Sie sind ein verflucht guter Schütze.« Der Deutsche grinste ein wenig verlegen. »Aber nur bei einem unter hundert Schüssen.« »Hauptsache, es ist der richtige Schuß«, meinte der Scout und sah auf Cordwainers blutende Hand, die von Martins Kugel gestreift worden war. »Also gut!« erscholl von draußen die Stimme des Guerillaführers. »Wenn ihr den Kampf wollt, könnt ihr ihn haben. Als erstes wird der verletzte Junge dran glauben, dann ist er wenigstens von seinen Schmerzen erlöst.« Hickok warf den Karabiner des Majors zu Martin hinüber, stand auf und zeigte sich mit erhobenen Händen am Fenster. »Warten Sie, Quantrill. Das war ein Mißverständnis. Wir ergeben uns und verlassen uns darauf, daß Sie Ihr Wort halten.« »Ein Mißverständnis?« »Ja, eine Meinungsverschiedenheit.« »Zwischen wem?« »Zwischen mir und dem Major.« »Dann ist der Major jetzt tot, nehme ich an?« »Nein, seine Hand blutet nur ein wenig.« Sie hörten Quantrills schallendes Lachen. Dann rief der neue Herr von Blue Springs: »Verlaßt das Haus einzeln, nacheinander, mit erhobenen Händen!« * Sobald die Verteidiger das Cordwainer-Haus verließen, wurden sie von Quantrills bewaffneter Schar in Empfang genommen und nach verborgenen Waffen durchsucht. Dabei sprangen die Guerillas nicht gerade sanft mit ihren Gefangenen um. Martin mußte ein paar harte Schläge und Tritte einstecken, als die Guerillas den Deutschen erkannten, der ihnen mit seinem Freund bei ihrem Attentat auf Abraham Lincoln in die Quere gekommen war. Auf Martins Verletzung nahmen sie keine Rücksicht. »Genug jetzt«, befahl Quantrill, als ihn das rüde Spiel, das seine Männer mit dem Deutschen trieben, langweilte. »Bringt ihn zu seinem Freund, damit sie gegenseitig ihre Wunden lecken können. »Was habt ihr mit Jacob angestellt?« fragte Martin, aber er erhielt keine Antwort. »Die Frauen sind noch oben«, sagte Hickok, der das Haus als erster verlassen hatte, zu Quantrill. »Warum kommen sie nicht raus?« »Weil zwei kleine Kinder bei ihnen sind. Eins ist gerade erst geboren worden.« »Wer ist die Mutter?« fragte Custis Hunter, der sich mit Melvin nach vorn gedrängt hatte. »Major Cordwainers Frau.« Custis' Gesicht verdüsterte sich bei dieser Nachricht. »Also gut«, meinte Quantrill. »Die Frauen können einstweilen im Haus bleiben.« »Garantieren Sie für Ihre Unversehrtheit?« fragte Hickok. Der Guerillaführer blickte ihn mit einer Spur von Befremden an. »Das habe ich doch schon gesagt!« Als Hickok Doc Hatfield aus dem Haus treten sah, bat er: »Darf der Arzt sich um Cody kümmern?« Quantrill grinste. »Er darf sich um alle kümmern - sobald meine Männer versorgt sind.« »Aber dann kann es für Cody zu spät sein!« Der uniformierte Reiter zuckte mit den Achseln. »Was geht das mich an?« Die Gefangenen wurden abgeführt. Quantrill ließ Hatfield zur Kirche bringen, die vor Verwundeten fast überquoll. Bill Andersen trieb sein Pferd an Quantrills Seite und fragte den Captain: »Ob die Frauen im Haus wohl hübsch sind? Die Reichen haben meistens hübsche Frauen.« Custis funkelte den Bärtigen böse an, legte die Rechte auf den Griff seines Revolvers und sagte zu Quantrill: »Vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben, Captain!« »Was denn?« spielte Quantrill den Unwissenden. »Daß ich bestimme, was mit den Cordwainers geschieht!« Ein Grinsen umspielte die Lippen des Captains, der erst zum Haus und dann zu dem blonden Mann sah. »Bedien dich, Hunter.« Custis nickte und schritt, gefolgt von Melvin, auf das große Gebäude zu. Als die Schritte näherkamen, drängten sich die Frauen ängstlich in Virginias Zimmer zusammen. Das Neugeborene schmiegte sich ruhig an seine Mutter, aber Jamie schrie lauthals, als ahnte er die Gefahr, in der alle schwebten. Irene schaukelte ihn sanft auf ihren Armen und versuchte ihn zu beruhigen - vergebens. Die Schritte hörten vor der Zimmertür auf, die kurz darauf aufgestoßen wurde. Ein Weißer und ein Schwarzer standen in der Öffnung und sahen herein. Virginia erbleichte bei dem Anblick und flüsterte ungläubig: »Custis!« »Alles raus!« sagte Custis Hunter hart. »Laßt mich mit der jungen Mutter allein! Mein Freund Melvin wird euch in ein anderes Quartier bringen.«. Abigail Cordwainer folgte der Aufforderung als erste, dann Beth und schließlich Irene mit Jamie. In der Tür drehte sich die Deutsche noch einmal um, warf einen besorgten Blick auf Virginia und sagte: »Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie!« »Ich denke, daß wird nicht nötig sein«, sagte Virginia, während sie Custis mit einem seltsamen Blick ansah - wie einen Geist. Dann waren die beiden allein in dem Zimmer. Nur das Neugeborene war noch da, aber das konnte sie noch nicht sehen und sie noch nicht verstehen. Seine Eltern. »Glückwunsch zu dem Kleinen«, sagte Custis bitter. »Da hat sich dein Mann sicher gefreut.« Er stand vor dem Bett und sah auf Mutter und Kind hinab, äußerlich scheinbar unbewegt. Aber Virginia, die ihn kannte, bemerkte das leichte Zucken seiner Gesichtsmuskeln, das seine innere Erregung verriet. »Custis! Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich zu sehen.« Der Vater ihres Kindes lachte rauh. »Das kann ich wirklich nicht, Virginia.« Befremdung trat in ihren Blick, gepaart mit etwas Angst. »Ich verstehe dich nicht, Custis. Du bist so seltsam. Was tust du überhaupt hier. Gehörst du etwa zu diesem schrecklichen Quantrill?« »Natürlich. Ich habe ihn erst darauf aufmerksam gemacht, was für ein schönes Städtchen Blue Springs ist. Und was für eine hübsche Bank die Stadt hat.« Er verschwieg ihr, daß Quantrill noch einen anderen Grund gehabt hatte, Blue Springs einzunehmen. Aber da er den Grund selbst nicht kannte, hatte es keinen Sinn, darüber zu reden. »Du hast Quantrill hergeführt?« fragte Virginia ungläubig. »So könnte man es nennen.« »Warum?« »Was ist das für eine Frage? Dein Mann brennt mein Heim nieder und ermordet meinen Vater! Du verrätst mich an Byron Cordwainer! Und dann fragst du, warum ich komme, um mich zu rächen?« »Ich habe dich verraten?« »Ja! Sobald du bei Cordwainer warst, hattest du nichts Eiligeres zu tun, als zu ihm ins Bett zu kriechen und dir ein Kind von ihm machen zu lassen!« Die Frau sah auf das winzig kleine Menschenwesen in ihrem Arm und dann auf den großen blonden Mann, der vor ihr stand. »Ich hielt dich doch für tot, Custis. Und ich. ich wollte nicht, daß unser Kind ohne Vater aufwächst. Wo hätte ich denn hin sollen, ganz allein und schwanger? Mein Vater hält zu den Cordwainers. Er hätte mich verstoßen, wenn ich Byron nicht geheiratet hätte.« Custis war eine ganze Weile sprachlos. Seine Augen wanderten zwischen Mutter und Kind hin und her. »Sagtest du >unser Kind